Aufgepasst!

Von Sofiya Schweizer

 

«Okay, du schaffst das. Alle vor dir haben es auch geschafft. Also, nochmals. Die Vögel kommen von links und alles, was auf der Weide ist, von hinten. Ganz einfach. Der Rest ist eigentlich klar. Blickkontakt, lächeln, schönen Tag wünschen. Nicht denken, machen. Wenn man mit den Gedanken zu spielen beginnt, verliert man sich sehr schnell, das darf nicht passieren.»
«Was ist mit den Fischen? Es gibt ja auch fliegende Fische, sind sie also auch bei den Vögeln?»
«Ja, sie kommen auch von dort», sagt Ivan, der an der Nebenkasse steht.
Okay. Konzentration.
Mein erster Kunde kommt. Ein Mann, etwa 40 Jahre alt. Gräuliches Haar, müdes Gesicht, Polo Shirt, braunes Portemonnaie. Ein typischer Familienvater, der einen McChicken bestellt, ohne Sauce. Der Arme. Sich McDonald’s gönnen, wie traurig ist das denn? Chicken ist ein Vogel, also muss ich den Burger links holen. Alles klar. Ah, alleine ist der Vater nicht. Da steht schon seine liebe Frau mit dem Sohn, der nicht zu beruhigen ist. Er wolle «Happy Määl» sagt sie. – Ja, gerne; ein Happy Meal mit was?
«Mit Schiissbürger».
«Pommes und Cola?»
Ach so, der Herr Sohn trinkt keine Cola. Was denn? Wasser. Gut.
«Und für Sie?»
«Für mich auch ein Schiissbürger.»
Bitteschön. Lächeln, Hauptsache lächeln. Herunterschlucken, vergessen. Die glückliche Familie verlässt uns endlich mit ihren Schiissbürgern und ich kann wieder so tun, als wäre ich beschäftigt. Ein angenehmes Gefühl. Im Moment ist nicht viel los.
Wieder diese Frau. Einen Strohhalm habe ich nicht gegeben. Ach, Entschuldigung, bitte sehr! Schönen Tag!
«Menschen sind blöd und nervig», sagt Ivan.
«Sie sind nervig, weil sie blöd sind», antworte ich.
«Stimmt.»
«Bis wann heute?»
«Bis um ein Uhr.»
«Am Morgen?»
«Ja.»
«Und wann hast du angefangen?»
«Um neun.»
«Schon vier Stunden stehst du da. Heftig.»
«Ich arbeite ja Vollzeit», sagt Ivan, «hab’ mich schon daran gewöhnt.»
«Aber wie?»
«-Was wie?»
«Wie kann man sich daran gewöhnen? Diese Kunden, dieser Stress.»
«Das liegt in der menschlichen Natur. Anpassungsliebe», sagt Ivan.
«Hm, ich werde das nicht so lange aushalten; drei, vier Monate und dann adios!
«Dachte ich auch am Anfang. – Das ist mein drittes Jahr hier.»
«Ou. Aber…»
Zwei Jungs stehen vor der Kasse. Der eine ist in meinem Alter, irgendwo habe ich ihn schon gesehen. Der andere ist ein paar Jahre jünger, vielleicht sein Bruder. Adidas-Hosen und Nike-Jacken. Anscheinend die letzte Mode.
«Grüezi, mer hättet gärn zwöi Fisch-Burger.»
«Als Menu?»
«Nei.»
«Öppis z trinke welle?»
«Nei, tanke.»
«Okay.»
Manche Fische können fliegen, also kommen sie von da, wo die Vögel kommen, und nicht von der Weide. So ist es viel einfacher zu merken. Genial. Bestellung fertig und ciao Jungs.
«Willst du einen Tipp? fragt Ivan.»
«Immer.»
«Wenn du einem Kunden was zu trinken anbietest, erwähne nur das Getränk und die Grösse. Medium, mindestens. Dann sind die Chancen grösser, dass er es nimmt, weil er quasi keine Wahl hat. So wird unser Gewinn um einiges grösser, verstehst du?»
«Unser Gewinn?»
«Ja.»
«Aber unser Lohn bleibt ja gleich, oder?»
«Klar.»
«Ich verstehe.»
«Gut.»
Unangenehmes Schweigen. Ich sollte was sagen. Keine falsche Zurückhaltung. Das steht so auch in meinem Motivationsbrief. Mama sagt, lügen sei nicht gut, aber wenn es sich ums Bewerben handle, dürfe man Dinge verschönern. Also los.
«Wie ist es jetzt mit der Anpassungsliebe?»
«Ja?»
«Wieso bist du noch da? Ich meine, nervt dich dieser Ort gar nicht?»
«Ach, das. Naja, man gewöhnt sich schneller, als man denkt. Die meisten Kunden sind völlig erträglich. Sie kommen und gehen, ihre Gesichter werden zu einem einzigen, und mit der Zeit stehen vor dir keine Individuen mehr, sondern graue burgerfressende Wesen, die mehr und noch mehr wollen. So sehe ich das.»
«Willst du nicht doch lieber den Job wechseln?»
«Nö, während der Arbeit kann ich mich auf wichtigere Gedanken konzentrieren.»
«Zum Beispiel?»
«Wieso Leute am Automat bestellen, wenn alle Kassen frei sind.»
«Soziophobie vielleicht?»
«Mag sein. Ich hab noch keine Antwort.»
McDonald’s steht wieder leer. Es ist schwierig, Ivans Alter einzuschätzen; er könnte 18 sein, ebenso gut 29. Slavisches Gesicht und kräftiger Körper. Längeres Haar und leckeres Parfum. Er sieht gut aus. Oder sagen wir: gepflegt. Oder sagen wir –.
«Du bist neunzehn, nicht?», fragt Ivan.
«Siebzehn. Wieso?»
«Hm, schade.»
«Wieso schade?»
«Du bist noch zu jung.»
«Hä?»
«Egal.»,
«Nun sag doch.»
«Für mich gibt es Grenzen.»
«Soso.»
«Weisst du, manche Dinge sollte man nicht tun, wenn man so jung ist wie du.»
«Du möchtest mir etwas sagen?»
«Naja, Alkohol trinken, Auto fahren, am Sonntag arbeiten», antwortet Ivan.
«Ich trinke doch schon Wein.»
«Echt? Ich dachte du bist ganz brav.»
«Nicht immer.»
«Dann könnten wir doch –»
«Auf keinen Fall.»
«Ich dachte ja nur.»
«Solltest du nicht. Sagst du ja selbst.»
«Ich werde dich also nur samstags sehen.»
«Reicht doch.»
Unser lieber Manager kommt. Ein Deutscher, dessen Mundgeruch das ganze Team verfolgt. Man sollte ihm den Schnabel kürzen. Sein Name ist mir entfallen. Ist das sehr schlimm? Fritz würde gut passen. Also Fritz, was gibt’s Neues?
«Ivan, Pause. Sechzehn Minuten.»
«Danke», sagt Ivan.
Pseudofritz schaut mir in die Augen, erkennt, dass ich keine Angst vor ihm habe, und verschwindet wieder in seinem Büro, in dem es keine Stühle hat.
«Bis in 16 Minuten», ruft Ivan.
Er geht. Ich bleibe.
Oder umgekehrt?