Corpus delicti

Von Charlotte Frey


Ihre Füsse knallten hart auf den Steinboden, das Herz schlug laut, die Haare wehten ihr quer über das Gesicht. Hinter ihr schrie der Alte immer noch: «Bleiben Sie auf der Stelle stehen, Gott verdammt!»
Das dicke Buch unter ihrem Arm schien noch schwerer geworden zu sein, und sie war beeindruckt von der Ausdauer ihres Verfolgers, dem sie sich auf Dauer nicht würde entziehen können. Andererseits war dieser mit Sicherheit nicht die hellste Kerze auf der Torte, denn wer liess schon ein unglaublich wertvolles Literaturwerk unbeachtet auf seinem Tresen liegen? Naja, sein Verderb, ihr Diebesglück.
In der schummrigen Abenddämmerung suchten Aurelias Augen nach einem Versteck. Mit einer schnellen Wendung bog sie scharf in die nächste Gasse ab, öffnete auf gut Glück die Hintertür eines Gebäudes und knallte die Tür hinter sich zu. Der Raum, in dem sie sich nun befand, war stockfinster. Sie lauschte an der Tür, in der Hoffnung, dass sie ihren Verfolger vorbeirennen hörte. Tatsächlich konnte sie nach ein paar Sekunden das schnelle Klatschen von Schuhen auf Asphaltboden vernehmen. Sie atmete tief aus und sackte zu Boden. Auf einmal blitzte es über ihr und sie erkannte flackernde Neonröhren, die jemand angeschaltet haben musste.
«Mist», murmelte sie.
Sie war zu erschöpft, um vor einer weiteren Person davonzurennen, also blieb sie in ihrer zusammengekauerten Position sitzen. Wieder hörte sie Schritte, allerdings waren diese ruhig, schon fast gemächlich. Mittlerweile war ihr klar, wo sie überhaupt hineingestolpert war. Bücherregale türmten sich über ihr. Es roch nach vermodertem Wissen. Ihr Blick schweifte durch den weiten Bibliotheksraum, bis sich plötzlich eine männliche Gestalt in ihrem Blickfeld befand. Schnurrbart, braune Karohosen, grauer Mantel. Seine Augen waren von einem besonders hellen Blau, was seinen durchdringenden Blick noch furchterregender machte. Peinlich berührt stand sie auf. Sie musste total fertig aussehen.
«Was suchen Sie hier? Ach, eigentlich ist Ihre Antwort nicht von Belang. Dies ist eine öffentliche Bibliothek und wir haben soeben geschlossen, also – Moment – was haben Sie da unter dem Arm?»
Sie wollte das Buch hinter ihrem Rücken verschwinden lassen, aber dafür war es zu spät. Den Blick auf ein Regal in der Tiefe des Raums gerichtet, murmelte sie nur:
«Nichts.»
«Wollen Sie mich zum Narren halten?»
«Nö. Da ist nix.»
«Nichts scheint jedoch in ihrem Fall etwas zu sein.»
«Blödsinn.»
Als der Alte nicht aufhören wollte, sie streng anzustarren, holte sie das Buch wieder hervor und gab es ihm mit zusammengepressten Lippen. Er las laut vor:
«Codex Leicester von Leonardo da Vinci.» Seine Augen weiteten sich. «Meine Liebe, dieses Buch haben Sie gestohlen.»
«Ich – nein.»
«Junge Dame, dies ist ein Buch von Leonardo da Vinci in der fünften Auflage. Ich kenne mich da aus. In dieser Bibliothek befindet sich die sechste Auflage unter höchster Sicherheitsaufbewahrung, also hören Sie auf, mich anzulügen.»
Eindringlich musterte er die junge Frau. Sie trug ausgewaschene, zerrissene Kleidung. Die Sohlen lösten sich von den Schuhen. Dann fragte er:
«Wie heissen Sie?»
«Aurelia.»
«Und was hat Sie dazu veranlasst, dieses wertvolle Buch zu klauen?»
Eine Pause entstand.
«Es geht Sie nichts an, warum ich es gestohlen habe. Sie haben ja schon ein Exemplar. Also geben Sie mir meines wieder zurück.»
Er bewegte sich nicht.
«Mann, geben Sie mir jetzt bitte das blöde Buch zurück?»
«Und weshalb?»
«Ich will es einfach zurückhaben.»
«Einfach so. Das glaube ich Ihnen nicht.»
«Tja, Pech, Alter.»
«Was wollen Sie damit?»
«Eben, nichts.»
«Hören Sie auf. Das Buch ist ein Vermögen wert – und Sie wollen nichts anfangen damit?»
Aurelia verschränkte die Arme vor der Brust.
«Mein Name ist Mauer», sagte er unvermittelt, «als ich in Ihrem Alter war, trug ich Kleider aus der vorvorletzten Generation und zu Hause wurde bei uns jeder Teebeutel mindestens dreimal gebraucht, bevor er in den Abfall wanderte. Stehlen war auch mein täglich Brot, damit ich über die Runden kam.»
Er hob den Zeigefinger.
«Als alter Schelm kann ich also mit Gewissheit sagen: Ihr Vorgehen war absolut dilettantisch. Deswegen mache ich Ihnen nun ein grosszügiges Angebot: Ich werde Sie in den nächsten paar Stunden in der hohen Kunst des Diebstahls unterrichten, so weit es geht. Sie brauchen Geld. Ich verstehe. Aber glauben Sie mir: Wenn Sie schon stehlen, dann richtig.»
«Brauch ich nicht.»
«Sie sind mit einem gestohlenen Buch offen in der Stadt herumspaziert…»
Aurelia überlegte nun einen Moment.
«Na gut.»
«Dann also Lektion eins: Unser Corpus delicti muss verschwinden, sobald wir es gestohlen haben.»
«Was soll verschwinden?»
«Ich wiederhole: Der von Ihnen gestohlene Gegenstand muss augenblicklich in Sicherheit gebracht werden, sobald Sie ihn entwendet haben. Und jetzt kommen Sie mit.»
Zögerlich folgte Aurelia dem Mann. Innerhalb der nächsten paar Stunden brachte der Bibliothekar ihr all seine Diebeskünste aus jungen Jahren bei. Darunter, wie man Hochsicherheitsschlösser knackte, wie man unbemerkt Ringe von Fingern entfernte, wie man auch grössere Gegenstände diskret entwendete, und so weiter. Wie sich herausstellte, war Herr Mauer ein geduldiger Lehrer. Nach jeder von Aurelia erfolgreich erfüllten Aufgabe, schnurrte er:
«Vorzüglich. Ganz vorzüglich.»
Zuletzt brachte Herr Mauer ihr noch bei, anständig zu lügen. Dies nicht zu schelmischen Zwecken, sondern, wie er sagte, «um die Allgemeinbildung zu erweitern».
Indessen waren mehrere Stunden vergangen, und als Mauers Arbeit getan war, war der Morgen angebrochen. Somit war es Zeit, voneinander Abschied zu nehmen. Mit einem festen Händedruck und stolzer Miene gaben sie sich die Hand, als sie draußen vor der Bibliothek standen. Bevor sich ihre Wege trennten, dankte Aurelia dem alten Mann.
«Nichts zu danken», antwortete er, «versprechen Sie mir einfach, dass Sie meinem Namen Ehre machen und auf sich aufpassen.» Aurelia nickte und lächelte dabei. Dann gingen beide davon.
Als der Tag seinen Lauf nahm, überlegte Aurelia, was sie mit dem gestohlenen Buch nun tun sollte. Jetzt wusste sie, wie man richtig stahl, also brauchte sie es nicht mehr. Es war zwar viel Geld wert, aber es waren auch Erinnerungen damit verbunden, die sie nicht irgendjemandem auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollte.
Am späteren Nachmittag hatte sie sich dazu entschlossen, sich in das Antiquariat zu wagen, aus dem sie das Buch gestohlen hatte. Als der Verkäufer sie erblickte, beschimpfte er Aurelia und drohte, die Polizei zu rufen. Doch als sie beschwichtigend das Buch in die Höhe hielt, beruhigte sich der Mann allmählich. Sie legte es vor ihm auf den Tresen. Nach einer längeren Diskussion war Aurelia erleichtert, als sie den Satz «Na gut, ich werde die Polizei nicht rufen.» aus dem Mund des Mannes hörte.
Sie antwortete mit einem enthusiastischen: «Vorzüglich.»
Der Mann beugte sich darauf kurz unter den Tresen und suchte die Lupe, damit er überprüfen konnte, ob das Buch beschädigt war. Als er wieder aufsah, war Aurelia verschwunden. Der Antiquar schüttelte den Kopf und sah das Buch noch einmal genau an. «Codex Leicester, Leonardo da Vinci», sagte er vor sich hin. «Auflage 6.»