Das Estrich-Monster

Von Caroline Buck

 

Lou lag unter der schweren Bettdecke und hielt ihren Teddybären so fest im Arm wie noch nie. Denn Papa hatte Mama zum Essen eingeladen – Hochzeitstag. Deswegen konnte Papa auch nicht die Leiter hochklettern und die Luke zum Estrich schliessen.

Kurz vor dem Zubettgehen hatte Lou an die Zimmertür ihres Bruders geklopft. Kaugummi kauend hatte er geöffnet. Im Hintergrund waren Stimmen aus dem Fernseher zu hören. Das braune Haar fiel ihm in die Augen. Er trug einen dunkelblauen Pullover, in dem er beinahe ertrank.
«Kannst du bitte den Estrich schliessen?», fragte Lou.
Tobi schob die Augenbrauen zusammen. An ihm hing der Geruch von Pfefferminze.
«Wieso? Hast du Angst, dass dich das Estrich-Monster frisst?» Tobis Lippen verformten sich zu einem Grinsen.
«Bitte, Tobi! Du bist auch der beste Bruder der Welt!»
Das Grinsen ihres Bruders wurde breiter. Lou wusste, dass er es liebte, gelobt zu werden. Wenn man Tobis beste Eigenschaften aufzählte, stand er da wie ein Gockel. Stolz auf sich selbst. Dann half er Lou auch gerne bei den Aufgaben – oder noch besser: er diktierte ihr einfach die Lösungen! Tobi schien ernsthaft zu überlegen, ob er seiner Schwester den Gefallen tun sollte – das erkannte Lou an der gerunzelten Stirn. Doch dann sagte er:
«Lou, du bist keine fünf mehr!»
«Das stimmt. Aber Angst habe ich trotzdem!» Lou sah ihren grossen Bruder flehend an und zupfte am Saum seines Pullovers. «Tobi, hab dich nicht so!»
«Du kannst das alleine!»
«Jetzt tu nicht so, als hättest du vor nichts Angst!»
«Ich und Angst? Vor was sollte ich mich denn fürchten?!»
«Als dir dieser Stinkkäfer ins Gesicht geflogen ist, hast du geschrien. Du fürchtest dich also vor Käfern!»
«Gar nicht wahr!» Tobi verschluckte sich beinahe an seinem Kaugummi.
«Schliesst du jetzt die Luke für mich?»
Tobi setzte eine altkluge Miene auf. Bald würde er etwas ganz Schlaues sagen. Gerecktes Kinn, gehobene Augenbrauen, gekräuselte Lippen. Tobi, das Genie.
«Angst kam man nur überwinden, indem man sich ihr stellt.»
Die Tür war ins Schloss gefallen.

Lou lag immer noch im Bett. Tobi war der dümmste Bruder der Welt! Im Fernsehen hatte sie etwas über eine Marsmission gesehen; hoffentlich würde man Tobi da raufschicken. Lou schaltete die Taschenlampe ein. Ein Lichtpunkt erschien an der Wand. Sie konnte nicht einschlafen. Nicht, wenn die Estrich-Luke geöffnet war. Deshalb gab es nur einen Weg: Sie musste rauf. Lou schluckte.
«Wir schaffen das, Teddy.»
Sie drückte seine Pfote und stieg aus dem Bett. Der Kegel der Taschenlampe zuckte suchend durch ihr Zimmer und verharrte auf der hölzernen Leiter, die zum Estrich hinaufführte. Tagsüber spielte sie dort oben mit ihren Puppen und Tobis alten Spielzeugautos. Der Estrich gehörte ihr ganz allein. Sie stöberte durch die in einer Ecke aufgestapelten Kartons – wie riesige Bauklötze schauten sie aus. In einer anderen Ecke starrte das Schaukelpferd die verstaubten Bücher an. Tobi hatte es Gustav genannt. Später hatte er seine Mähne mit einer Schere verstümmelt. Und eines Tages war Gustav ein Auge ausgefallen, einfach so. Nun stand er da, einäugig, zwischen unvollendeten Lego-Bauwerken. Das Tollste am Estrich waren aber die Wände. Ihr Vater hatte sie zu seinen Leinwänden gemacht. Drachen, Einhörner, Zauberer, Prinzessinnen. Und dann gab es noch die Holzkiste mit dem goldenen Schloss. Sie beherbergte einen Piratenschatz aus lauter Krimskrams. Ihre Mutter nannte die Sachen Blödsinn, den man wegwerfen sollte, aber Lou entdeckte immer wieder kleine Schätze.
Nachts jedoch war alles anders.
Sie hatte das Gefühl, Schritte zu hören. Die Holzdielen knarzten und der Wind suchte sich seinen Weg durch die Balken. Lou sah hoch. Die Leiter führte hinauf in eine rechteckige Öffnung – wie eine dunkle Wunde klaffte sie in der Decke. Es war eine Leiter in die Nacht. Was, wenn Lou hochkletterte und plötzlich im All schwebte – wie ein Astronaut?

Es war Papa, der jeden Abend den Kopf in ihr Zimmer streckte – ein Grinsen auf den Lippen – und fragte, ob er die Luke schliessen solle. Natürlich musste er.
«Das Estrich-Monster klettert erst nachts aus seinem Versteck – wie eine Eule», pflegte er zu sagen, wenn er die Sprossen hochstieg. «Und dann spielt es mit deinem Spielzeug.»
Ehe er die Luke zuzog, rief er: «Estrich-Monster, du kannst rauskommen! Lou geht schlafen!»
Als Mama vom Estrich-Monster erfuhr, war sie wütend auf Papa.
«Du kannst ihr sowas doch nicht erzählen!»
Papa und Tobi fanden es trotzdem amüsant. Tobi fand das Ganze so lustig, dass er sich einen Spass erlaubte. Er versteckte sich auf dem Estrich, hüllte sich in ein altes Bettlaken und setzte eine Faschingmaske auf. Bevor Lou einschlief, stieg er die Leiter runter und flüsterte mit kratziger Stimme: «Ich bin das Estrich-Monster!»
Kreischend war Lou aus dem Bett gefallen. Und Tobi hatte Hausarrest bekommen.

Lou griff nach dem Geländer. Ihr Atem zitterte. Teddy, der auf dem Bett sass, blickte sie aus grossen Augen an. Fünf Sprossen, dann kam sie mit klopfendem Herzen am Ende der Leiter an. Das Licht der Taschenlampe schweifte umher und Lou horchte in die Stille. Wie es schien, hatte das Estrich-Monster sein Versteck noch nicht verlassen.
Wie sollte sie sich das Monster überhaupt vorstellen? Lou wusste es nicht. Anscheinend hatte Papa es schon gesehen. Er hatte ihr aber nicht verraten wollen, wie es aussah. Vielleicht war das Monster gar nicht unheimlich. Vielleicht besass es keine Haifischzähne, sondern ähnelte einem zotteligen Hund mit riesigen Augen und einem gutmütigen Blick.
Lou stellte sich vor, wie das Estrich-Monster um die Ecke guckte und in der Luft schnüffelte. Zuerst würde Lou erschrecken, doch dann würde sie ganz vorsichtig die Hand ausstrecken. Und zutraulich würde das Estrich-Monster in ihre Richtung trotten. Sie würde ihre Hand auf den wuscheligen Kopf des Monsters legen. Sie würden sich anfreunden und Lou käme es jede Nacht besuchen. – Lou wartete und wartete, aber nichts geschah.
«Estrich-Monster?», flüsterte sie.
Nichts. Wo war es bloss? Lou legte sich auf den Boden und starrte aus dem Dachfenster. Der Himmel war so dunkel wie Tinte. Es gab keine Sterne und auch keinen Mond. Nur dunkelgraue Wolken, die sich über den Nachthimmel schoben. Lou gähnte. Vielleicht hatte sie ja morgen Glück.
Auf allen vieren krabbelte sie zur Leiter. Bevor sie die Luke hinter sich zuzog, liess sie nochmals ihren Blick wandern. Noch immer keine Spur vom Estrich-Monster. Sollte sie sich freuen oder sollte sie enttäuscht darüber sein? Eigentlich war es hier oben im Dunkeln gar nicht so unheimlich. Lou würde es Tobi natürlich nie sagen, aber vielleicht hatte er ja recht gehabt. Wie erstaunt würde Papa gucken, wenn sie morgen Abend die Luke selbst schliessen würde.
Stolz hopste Lou zurück in ihr Bett. Den Teddy drückte sie an sich und schloss die Augen. Dann hörte sie Schritte.