Déjà-vu

Von Livia Lochmann


Ich spürte etwas Warmes meine Handfläche hinabrinnen, gleichzeitig war mir eisig kalt. Die Tür
klinke drückte sich schmerzhaft in meinen Rücken, während ich stossweise ausatmete. Meine freie Hand tastete nach dem Türschloss und vergewisserte sich, dass abgeschlossen war. Obwohl ich es wusste, kontrollierte ich immer wieder nach.
Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster, dessen Scheibe in tausend Einzelteilen auf dem Boden lag und ein abstraktes Mosaik bildete. Das Licht reflektierte sich in den Glasstücken, warf helle Muster an die beige tapezierten Wände.
Ich betrachtete meine Hand, über die sich Blutlinien zogen. Schmerz blieb jedoch aus, der Körper war taub von der Kälte, die mich umgab.
Die scharfen Kanten der Scherbe bohrten sich weiter in meine Handfläche. Ein Blutstropfen sammelte sich an der Kuppe des Zeigefingers, bevor er mit einem kaum hörbaren plopp auf dem Parkettboden auftraf. Ich betrachtete den roten, leuchtenden Punkt auf dem dunklen Grund, und die Erinnerung durchzuckte mich, wie schon etliche Male zuvor.
Valerie. Ich musste das tun. Du und ich, das ist das einzig Richtige.
Der Klang seiner Stimme liess mich schaudern. Ich hatte nie geglaubt, ich könnte je Hass verspüren. Und die 15 Jahre, die dazwischen lagen, machten es nicht besser.
Ein Lufthauch streifte mich und wischte die Erinnerungsfetzen weg. Ich lauschte. Der Flur lag totenstill hinter der Tür.
Erneut tastete ich nach der Klinke. Abgeschlossen.
Durch das zerschlagene Fenster erreichte mich die eisige Luft des Winternachmittags und fror meine Glieder ein, so dass ich mich steif und zerbrechlich fühlte, wie damals.
Ich hatte die Bilder von Levi und mir nach dem Gerichtsprozess verbrannt. Im gleichen Feuer fanden auch der Plüschteddy vom Rummelplatz und die paar Liebesbriefe ihr Ende. Alles, was mich an meine Beziehung mit Levi erinnerte, war vernichtet worden. Ich konnte es nicht ertragen, daran erinnert zu werden. Obwohl ich gedacht hatte, ich sei darüber hinweg.
Die Tür. – Noch immer abgeschlossen.
Das Warten machte mich verrückt. Ich wusste, er würde kommen. Ich hatte seine Augen gesehen, als der Stein mit Wucht mein Fenster durchschlagen hatte.
An der Wanduhr gegenüber drehte der Sekundenzeiger Runde um Runde. Sein Klicken klang unnatürlich laut in der Totenstille. Eine Krähe flog vorbei und landete auf einem Zweig des Baumes, dessen Krone beinahe mein Fenster erreichte. Dahinter erstreckte sich ein strahlend blauer Himmel.
Dann mischte sich das Geräusch schwerer Schritte mit dem Ticken der Uhr. Mein Herz machte einen Satz. Von weitem konnte ich bereits eine dunkle Anwesenheit spüren, die sich wie eine Gewitterwolke vor die Sonne schob.
Ich legte das Ohr an die alte Holztür, Schritte stoppten auf meiner Höhe.
«Valerie, ich weiss, dass du da bist.»
Der Klang der Stimme, die ich so lange nicht gehört hatte, erschreckte mich. Sie klang rau, abgenutzt, zornig. Ich hielt den Atem an, das Ohr weiterhin an die Tür gepresst.
«Ich weiss, dass du da bist!», knurrte er. Er klang unglaublich wütend. Wahrscheinlich hatte er die 15 Jahre nichts Besseres zu tun gehabt, als das hier zu planen.
«Was willst du?», fragte ich. Meine Hand umklammerte die Glasscherbe fester.
Ron schlug mit der Faust gegen die Aussenseite der Tür, ich zuckte zurück. Ich konnte mir den zornigen Blick vorstellen, mit dem er die Tür anstarrte, das einzige Hindernis zwischen ihm und mir. Derselbe Blick, mit dem er damals kaltblütig gemordet hatte. Und er würde es wieder tun.
Seine Schuhe bewegten sich, er versuchte die Türklinke nach unten zu drücken. Verschlossen.
«Valerie, mach die Tür auf.»
Er rüttelte an der Klinke, dann sog er scharf die Luft ein, lief im Flur einmal auf, einmal ab, bevor er wieder auf meiner Höhe stehen blieb.
«Val, mach die verdammte Tür auf!» Seine Wut lag wie Eiskristalle in der Luft. Eine Faust schlug hart gegen das Holz, die Tür bebte an meinem Rücken. Ron stiess einen Schwall von Flüchen aus. Dann begann er, mit seinem Stiefel gegen die Tür zu treten, immer wieder. Ich vergrub den Kopf in meinem Schoss und versuchte das Hämmern auszublenden. Levis Bild erschien vor mir.
Ron schrie unverständliche Worte, während er weiter auf die Tür eindrosch.
Es tut mir leid, Levi. Das alles tut mir so leid. Ich wiegte mich hin und her, die Glasscherbe frass sich in meine Haut. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als das Holz splitterte und die Tür mich zur Seite warf. Ein Schatten legte sich über mich, schwer atmend. Ich betrachtete den blauen Himmel durchs zerbrochene Fenster hindurch. Es war ein schöner Anblick.
Doch im nächsten Moment drehte mich Rons Stiefel auf den Rücken und er beugte sich zu mir hinunter. Seine dunklen, kalten Augen fixierten mich.
«Du hast mich verlassen», sagte er tonlos. Ich reagierte nicht. Auch nicht, als seine Hände meine Kehle packten. Er drückte fester zu und ich keuchte, während meine Lungen nach Luft schrien.
«Ron – du – bringst mich um», brachte ich mühsam hervor. Er hörte mich nicht.
Dann fiel mir die Scherbe ein. Mit letzter Kraft erhob ich die Hand, die Sonne spiegelte sich im kantigen Glas.