Der Herzensammler

Von Hannah Hermann


Namen hatte er keinen. Seine Geschichte wurde kleinen Kindern als Gruselmärchen erzählt, oder bei einem Lagerfeuer, um den Freunden so richtig Angst einzujagen. Doch seine Geschichte war kein Mythos. Er lebte unter ihnen.
Er wohnte in einem kleinen, baufälligen Haus am Rande der Stadt. Die meisten, die an diesem Haus vorbeigingen, nahmen es kaum wahr. Und wer es betrachtete, dachte sich nichts dabei, vermutete, dass es bald abgerissen würde. Die blinden Fensterscheiben verunmöglichten Blicke in das Innere; er aber beobachtete sie genau, jeden, der bei ihm vorbeiging. Ein kleines Loch in einer der Fenster- scheiben im oberen Stock gewährte freie Sicht auf die Opfer. Er sah sie nicht als Wesen aus Fleisch und Blut, sondern als eine Art von Muscheln. Sie wollten geöffnet werden, sie zwangen ihn fast schon dazu. Auch er selbst schien nicht aus Fleisch und Blut zu sein. Er war mehr eine Erscheinung. Niemand konnte ihn beschreiben, da keiner, der ihn zu Gesicht bekommen hatte, zu seinen Lieben zurückgekehrt war. Doch er hatte nicht die Absicht, jemandem zu schaden, er wollte nicht töten. Er war nur der Herzensammler.
Wenn er einen Menschen erblickte, der seine Neugier weckte, öffnete er den Mund und liess sein Schauerlied ertönen. Dieses Lied war so schauerlich, dass es Erstaunliches bewirkte. Wer es hörte, wollte den Ursprung des Liedes aufspüren. Hatte sich eines dieser Menschlein in sein Haus gewagt, war es auch schon in die Falle getappt. Zunächst ging der Herzensammler mit ihm sorgsam um. Fast schon wie mit einem Kleinkind. Das Menschlein fühlte sich sicher, doch dann schloss der Herzensammler die Augen. Tränen liefen ihm in kleinen Rinnsalen über die Wangen. Bedächtig, voller Ehrfurcht vor dem Leben brach er mit seinen langen, knöchrigen Fingern dem Mensch- lein das Genick.
Sie sahen so schön aus, wie kleine Püppchen, wenn sie da so lagen. Er war nicht interessiert an ihrem Aussehen. Sie konnten klein, dick, dünn, hübsch oder hässlich sein – eines hatten sie alle gemeinsam: Sie besassen etwas, dem er nicht widerstehen konnte. Ein rotes, pochendes Stück Leben. Vorsichtig, bedacht darauf, nichts zu beschädigen, schlitzte er mit einem Fingernagel die Haut auf, schob sorgfältig die Rippen beiseite und griff beherzt in den Brustkorb. Fast schon andächtig hob er das warme Fleisch aus dem Körperchen. Da lag es in seiner Hand. Ein Klumpen, der dafür sorgte, dass die Menschen lachten, rannten, sprachen. Ein Stück Fleisch, das sie glücklich machen konnte. Jedes Mal, wenn er ein neues Herz in der Hand hielt, fühlte er sich ein kleines bisschen menschlich, näher bei ihnen. Noch nie aber hatte ein Herz bewirkt, wonach er sich seit Jahrhunderten sehnte. Noch keines war so rein gewesen, dass es ihn für sein restliches Leben erfüllt hätte. Er wollte Wärme in seinem toten Körper empfinden, so sein wie sie, glücklich sein, geliebt werden. Doch ihm war es bis jetzt unmöglich gewesen, dieses Herz aufzuspüren.
Eines Tages aber hörte er ein Lachen, wie er noch nie eines vernommen hatte. Es berührte ihn in seinem Innersten. Als er durch das Loch der Fensterscheibe guckte, erblickte er es, ein kleines Wesen, goldenes Haar, weisses Kleid, grosse blaue Augen. Ein reines Wesen, so zart und unschuldig. Ein Kind. Und da wusste er, dass dies sein Herz sein würde. Schon lange war kein Kind mehr an seiner Hütte vorbeigekommen, schon gar nicht allein.
Weil immer wieder Menschen verschwanden, vermieden es die Leute in der Stadt, ihre Häuser allein zu verlassen. Kinder durften nur in Begleitung Erwachsener nach draussen. Das Kind, das dort unten ausgelassen auf der Strasse herumhüpfte, erschien ihm wie ein Geschenk. Je länger er das Kind beobachtete, desto dankbarer wurde er.
Durch das Lied des Herzensammlers angelockt, tapste es auf das Haus zu. Mit seinen kleinen Händen stiess das Kind die Tür auf, und sowie es eintrat, streckte der Herzensammler seine langen Finger aus der Dunkelheit heraus und fing das Wesen geschickt wie einen Schmetterling. Da lag es nun in seinem Arm und blinzelte ihn an. Es schien überhaupt keine Angst vor ihm zu haben, es lächelte ihn sogar an. Nie zuvor hatte ein Mensch so auf ihn reagiert. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte, doch dann besann er sich, seine Gedanken wurden wieder klar. Langsam schlossen sich seine Augen, ein paar Tränen lösten sich. Mit einer zaghaften und zugleich entschlossenen Bewegung nahm er dem unschuldigen Ding das Leben. Nach ein paar Handgriffen hielt er ein kleines Herz in der Hand. Noch nie war eines so rein und so grazil gewesen.
Der Herzensammler konnte sein Glück nicht fassen. Wie er aber das Herz an sich drückte, entfuhr ihm ein erstickter Schrei. Nicht wissend, was mit ihm geschah, krallten sich seine Finger in das warme, rote Fleisch. Die Luft zum Atmen blieb ihm weg – dann kippte er vornüber und schlug auf dem steinernen Boden auf.