Ertrinken

Von Jelena Bitterli


Mein Zug war schon da, als ich den Bahnsteig erreichte und auf den Türöffner drückte. Ich setzte mich an den erstbesten Platz am Fenster, und als der Zug langsam losfuhr, haftete sich mein Blick an einen der vielen Regentropfen an der Scheibe. Ich beobachtete, wie ein Tropfen grösser wurde, runterkullerte und alle, die seinen Weg kreuzten, mit sich riss. Etwa hundert Tropfen später wurde meine Haltestelle angekündigt. Ich stieg aus und blickte nach oben, fühlte, wie der Regen auf mein Gesicht prasselte, den Hals runterlief, und sah, wie sich meine Schultasche verfärbte. Ich machte mich auf den Weg nach Hause.
Der Flur war in ein schummriges Licht getaucht.
«Mum?»
Stille. Im Wohnzimmer waren die schweren Vorhänge gezogen und der Fernseher lief. Auf dem Sofa in der Ecke ein Haufen Decken. Darunter irgendwo lag sie, kaum sichtbar, nur die knochige Hand, die über den Sofarand hing, und das sanfte Heben und Senken der Decken verrieten, dass dort ein Mensch schlief. Ich setzte mich neben sie, strich ihr sanft über das ungekämmte dunkle Haar, räumte die fast leere Flasche und das Glas vom Beistelltisch. In der Küche spülte ich die Flüssigkeit, die noch in der Flasche war, den Abfluss runter und warf sie in das Altglas zu den anderen leeren Flaschen. Wie immer an solchen Tagen kochte ich eine Bouillon mit kleinen Nudeln und toastete ein paar alte Scheiben Brot dazu. Als ich mit den heissen Schalen und dem Brotkorb zurück ins Wohnzimmer kam, hatte sie sich aufgerichtet und starrte ausdruckslos auf die Moderatorin, die mit roten Wangen auf irgendeinem Dach vom Wetter faselte. Sie blickte weder auf, als ich mich aufs Sofa setzte, noch zeigte sie eine Reaktion, als ich ihr das Essen vor die Nase hob.
«Iss!»
Demonstrativ hielt ich die Schale vor ihre Hände, bis sie schliesslich nachgab und das warme Geschirr mit den Händen umschloss. Nach zwei Löffeln stellte sie die Suppe zurück auf den Tisch und begann sich wieder einzumummeln.
«Nein, setz dich wieder auf. Du solltest mehr essen.»
Ich versuchte meine Stimme bestimmt wirken zu lassen, in der Hoffnung, dass ich irgendwann zu ihr durchdringen würde, doch sie blickte mich trotzig an, wie ein kleines Kind, das den Brokkoli auf keinen Fall essen wollte.
«Ich kann nicht mehr essen, sonst wird mir übel. Weisst du doch.»
Sie drehte sich um und zog sich die Decke über die Ohren. Ich lehnte mich zurück und versuchte nachzudenken, doch der Raum schien dunkler und enger zu werden und machte es unmöglich irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Ich ging zu einem der Fenster, öffnete die Vorhänge und wollte gerade die frische Luft hereinströmen lassen, als sie sich wieder regte.
«Schliess diese blöden Vorhänge!»
Dort, wo sie lag, fiel das Sonnenlicht hin, und erst jetzt wurde mir klar, wie schlecht sie aussah. Sie war noch dünner geworden, und sie zitterte. Die Wangenknochen stachen heraus und die schlaffe, fahle Haut hing darüber wie ein Tuch, das jeden Moment weggeweht werden konnte. Ihre Augen hatten alles Licht verloren, waren eingesunken und von dunkeln Schatten umgeben. Die Lippen dünn, und fast weiss, zeigten nicht, dass sie mal voller Leben und Glück gewesen waren; sie wirkten, als ob sie nie gelernt hätten, wie man lacht.
«Mum, du bist krank!»
Sie sah zur Seite, zugleich beschämt und aufgebracht.
«Du hast mir nichts zu sagen, nur, weil er nicht mehr da ist! Und ich bin nicht krank. Ich könnte aufhören, wenn ich wollte. Deine Hilfe brauche ich nicht. Verschwinde und lass mich in Ruhe!»
Sie stand auf, schwankte und lief in Richtung Küche, als ihre Beine nachgaben. Ich wollte ihr helfen, sie stützen, doch ihr Blick hielt mich davon ab. Wie ein Hund mit gebrochenen Hinterbeinen klammerte sie sich an einer Kommode fest und zog sich vom Boden hoch.
«Du kannst ja nicht einmal mehr alleine gehen. Du brauchst jemanden, der dir Halt gibt.»
Ich machte einen Schritt auf sie zu, doch sie knurrte mich an: «Verschwinde endlich. Am besten, du kommst nicht mehr wieder!»
Ich wich zurück, nahm meine Schultasche, hastete durch den trostlosen Flur, der vor meinen Augen zu verschwimmen begann, und warf die Wohnungstür laut zu. So laut, dass ich nicht hörte, wie meine Mutter wieder zu Boden sackte und zu weinen begann.
Ich schlief bei meiner Freundin. Mittlerweile fragte sie nicht mehr, was los war, sie wusste über alles Bescheid. Wenn ich vor der Tür stand, holte sie die zusätzliche Matratze unter dem Bett hervor und legte mir Kleider zum Schlafen bereit. Genau wie ich, versuchte sie die Situation so zu akzeptieren, wie sie nun mal war. Am Morgen verabschiedete ich mich und ging nach Hause, ich hatte nicht die richtigen Schulbücher dabei, und die Kleider wechseln wollte ich auch.
Wie am Tag zuvor war es dunkel und der Fernseher lief noch. Das Wohnzimmer sah so aus, wie ich es verlassen hatte, doch sie war nicht da. Aus der Küche hörte ich ein regelmässiges Plätschern.
Ich trete über die Türschwelle in den Raum. Meine Socken werden nass. Im Waschbecken liegen die zwei Suppenschüsseln von gestern. Das Wasser fliesst über den Rand auf den Boden, sie liegt in der riesigen Pfütze. Die Kleider kleben an ihrem mageren Körper, die Haare hängen ihr über das Gesicht. Das Wasser um ihren Kopf ist leicht rot gefärbt. Ich knie mich neben sie hin. Ihr Körper fühlt sich kalt an, der Atem ist flach und riecht beissend. Ich ziehe sie auf meine Knie und streiche ihr regelmässig über den Kopf, warte, bis sie wieder zu Bewusstsein kommt.
«Es wird alles gut. Ich bin ja da. – Es – es tut mir leid. Bitte – verlass mich nicht. Nicht du auch noch. Sie öffnet die Augen, die Leere von gestern ist verschwunden. Stattdessen lässt sie den Schmerz, die Trauer frei, die sie so verzweifelt versucht hat zu ersticken.
«Lass mich nicht allein.»
Wenn ich es nur könnte.
Ich sass im Zug, am Fenster, und blickte nach draussen. Ein paar Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Wolkendecke und schienen auf die Welt, die unter ihnen lag. Zusammen mit den anderen Pendlern stieg ich am Bahnhof aus, atmete die feuchtwarme Luft ein. Wie immer auf dem Weg zur Schule redete ich mir gut zu. Zwei Stunden Biologie, Französisch und Mathematik. Danach wäre alles anders. Bestimmt.