Ava und ich

Von Sophie Kuse


14. März 2017
Eigentlich wollte ich gestern noch einen Eintrag machen, aber als ich mich endlich dazu hingesetzt hatte, fing Noemi an zu schreien und ich habe es letztendlich vergessen. Leider weiss ich auch nicht mehr, was ich schreiben wollte, also kann ich es auch nicht mehr nachtragen. Aber jetzt zum heutigen Tag. Es ist mir endlich gelungen, 240 km zu fahren! Ich bin so beflügelt und kann es selbst kaum fassen. Übermorgen gehts an den Wettkampf und ich habe die Distanz sogar trotz sieben Tagen Trainingspause geschafft. Aber leider kann ich diesen Erfolg nicht mit Yonas teilen. Der Arme liegt mit Grippe im Bett.


15. März 2017
Ich bin so aufgeregt, ich weiss gar nicht, was ich schreiben soll. Alles, woran ich denken kann, ist der morgige Wettkampf. Wie lange habe ich (und hat auch Yonas) für diesen Tag trainiert? Es tut mir so leid, dass er nicht teilnehmen kann. Die Grippe hat ihn einfach im falschen Moment erwischt. Jetzt fühle ich mich aber doppelt unter Druck, weil ich auch für ihn einen guten Platz belegen will. Ich habe von allen Seiten Glückwünsche erhalten und bin sicher, dass mich einige meiner Arbeitskollegen und -kolleginnen im Fernsehen verfolgen werden. Das macht mich ziemlich nervös. Jedenfalls habe ich alles vorbereitet, sogar die Reifen habe ich nachgepumpt und die Kette geölt.


01.07.2019
Ich bin wieder da. Nach fast zwei Jahren. Wach, aber irgendwie noch gar nicht wieder da. Der Doktor sagt, das sei normal. Normal, sagt er!
Jetzt schreibe ich also in dieses Buch. Offenbar hat es heute jemand vorbeigebracht, die Pflegerin wusste aber nicht mehr, wer es gewesen war. Sie meinte nur, es sei mein altes Tagebuch. Irgendwie fühlt es sich falsch an, in das Tagebuch einer Person zu schreiben, die man nicht kennt. Also, es ist meins, aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe all die Einträge gelesen, kann mich aber damit nicht identifizieren. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich mich nicht spüre. Weder die Beine noch den Bauch, ich weiss nicht, ob es kalt oder warm ist im Raum, ich fühle gar nichts. Ich hätte nie geglaubt, so zu enden. Wie ein Kartoffelsack. Den ganzen Tag versuche ich meine Beine zu heben, etwas zu sagen oder zumindest zu schlucken. Keine Chance. Es ist, als hätte ich vergessen, wie es geht, obwohl ich es wahrscheinlich nie bewusst gewusst habe. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieser Zustand die absolute Hölle ist. Ich schäme mich jedes Mal, wenn die Pflegerin kommt und meine Windeln wechselt. Es ist einfach nur demütigend.


05.08.2019
Also, scheinbar ist das wirklich mein Buch. Gestern ist eine Frau zu mir gekommen, meine Mutter. Jedenfalls hat sie das behauptet. Es ist mir alles zu viel. Mein Name? Keine Ahnung, wie mein Name lautet. Alle nennen mich Ava, aber ich verknüpfe kein Gefühl mit diesem Namen, eine Erinnerung schon gar nicht. Ava fühlt sich nicht richtig an, und trotzdem steht auf meinem Patientenarmband Ava-May Link.


06.08.2019
Tschuldigung, ich bin gestern einfach weggedöst beim Schreiben. Ständig schlafe ich unwillentlich ein oder pinkle ins Bett, es ist ein Alptraum. Meine Beine sind noch immer tot, und auch mein Gesicht ist taub. Gefangen in einem Körper, der mir nicht gehört. Mein Körper heisst Ava-May, habe ich das schon gesagt?


07.08.2019
Die Frau, also meine Mutter, die mir dieses Buch hier mitgebracht hat, war heute wieder zu Besuch. Wir lernen uns langsam kennen.


08.08.2019
Ich habe nochmals die alten Einträge gelesen – und versuche zu begreifen. Ich versuche zu begreifen, weshalb ich hier bin, weshalb mir all die Leute, die mich besuchen kommen, so fremd sind, und weshalb ich mich nicht erinnern kann, die Person gewesen zu sein, die die Leute hier besuchen kommen. – Wenn ich wenigstens sprechen könnte. So sehr ich es versuche, es kommt kein Wort über meine Lippen. Es ist, als würden meine Worte im Kopf losgeschickt, doch dann, kurz vor dem Ziel an irgendeinem Hindernis abprallen. Meine grösste Leistung war ein homo-habilis-artiger Laut, so in etwa wie ein Affe, der «uh,uh» macht. Diese Tatsache erschwert so einiges und treibt mich in den Wahnsinn, denn die Leute reden mit mir wie mit einem Hund. Passend dazu tätscheln sie noch meine Hand oder streicheln mir den Kopf. Ich habe versucht, Fragen aufzuschreiben, aber ich weiss nicht, womit ich beginnen soll.
Ich schreibe hier sehr bedacht, weil alle drin lesen, sobald ich fertig bin. Ich weiss das. Und es ist nicht okay, Frau Säusel. Wenigstens möchte ich um Erlaubnis gefragt werden. Das hat mit Respekt zu tun! Frau Säusel, wenn Sie das hier lesen, möchte ich Ihnen gerne sagen, dass sie verdammt noch mal fragen sollen. Ich bin keine Zimmerdekoration!


09.08.2019
Ein weiterer Tag im Gefängnis meines unbrauchbaren Körpers, ein weiterer erfolgloser Versuch, mehr über meine Vergangenheit zu erfahren. Die Zuversicht ist wie eine Badezimmerseife, scheint es mir; es ist so gut wie unmöglich, sie zu fassen zu kriegen. Doch die kurzen Momente, in denen man sie fast gekriegt hätte, treiben einen an, weiter nach ihr zu greifen.


11.08.2019
Wo soll ich beginnen. Ich habe mich heute zu ersten Mal im Spiegel gesehen. Mein kahl rasierter Kopf hat mich zu Tode erschreckt. Ich weiss nicht, was ich erwartet hatte, lange Haare vielleicht? Die Kahlheit ist schlimmer als die lange Narbe, die sich über den Schädel zieht. Und dann die Augen. Die Farbe habe ich mir nicht merken können, aber was mich schockierte, war die Leere in ihnen. Ich starrte in leere Augen, in einen tiefen Brunnen der Unergründlichkeit. Wer ist Ava? Wer bin ich?


12.08.2019
Heute war ich endlich soweit. Endlich konnte ich meine erste und dringlichste Frage formulieren. Wie bin ich hierhergekommen? Auf die Antwort war ich aber nicht vorbereitet. Frau Säusel sagte: «Sie haben an einem Wettkampf teilgenommen. Am Tag des Rennens regnete es, dicker Nebel kroch über die Strassen. Entlang der langen Geraden zum Ziel stand viel Publikum. Als Noemi Sie erkannte, riss sie sich von ihrem Vater los und rannte auf die Strasse, direkt vor ihr Rad.»
Mehr sagte sie nicht.


13.08.2019
Noemi. – Ich habe mein eigenes Kind getötet.


16.08.2019
Wieso lässt man mich nicht einfach wieder einschlafen. Für immer. Denn das alles ist nicht auszuhalten. An einen Gott glaube ich nicht, aber falls es ihn gibt, kann er mich mal!


19.08.2019
Heute war ein miserabler Tag, wobei solche Tage mittlerweile Alltag sind. Aber heute war ein extrem schlechter Tag. Mama ist komplett zusammengebrochen, und ich konnte diese Frau, zu welcher ich langsam wieder eine Verbindung spüre, weder tröstend in den Arm nehmen noch ihr gut zusprechen! Es ist einfach so aussichtslos, alles. Eine Art Vor-sich-hin-Vegetieren. Und jedes Mal, wenn ich wieder etwas aus meiner Vergangenheit zu fassen kriege, eine Erinnerung, wirkt sie wie ein Messer, dessen Klinge man mit der Hand hält, weil der weiche Griff abgebrochen ist. Tiefe Wunden, die immer wieder aufplatzen und nie zu verheilen scheinen. Zum Kotzen.


20.08.2019
Heute habe ich keinen Besuch bekommen. Nichts ist passiert, ausser dass ich zwei Stunden in meiner eigenen Pisse liegen musste, weil Frau Säusel vergessen hatte, mir den Alarmknopf in die Hand zu legen.


23.08.2019
Noemi. Ich kann nur an diesen Namen denken. Aber da ist keine Erinnerung, nur ein tiefes, schwarzes Loch.


24.08.2019
Ich kann es kaum fassen, Frau Säusel. Danke! Wenn sie das hier lesen: DANKE! Ich bin Ihnen überhaupt nicht böse, dass sie den heissen Tee auf meine Beine ausgeschüttet haben! Denn ich habe endlich etwas gespürt!


25.08.2019
Heute ist mein Mann gekommen. Zum ersten Mal. Denn, ja: Ich habe einen Ehemann. Frau Säusel sagt, er heisst Yonas. Aber er könnte auch Jonathan heissen und mein Bruder sein, ein Pfleger, eine Putzhilfe. Ist es zu fassen? – Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Er weinte, und dann ging er wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Ein Foto hat er dagelassen: Das – das ist meine Tochter. Das war Noemi.


26.08.2019
Dieser Tag soll dick in meinem Kalender markiert werden! Er ist der Tag der Zuversicht. Erst hat mein Zeh gezuckt, dann kam der Arzt. Er meinte, es gäbe eine Chance auf Besserung. Ich soll tatsächlich wieder selbst atmen können! Es werde eine Zeit dauern, sagt er, aber egal: Ich werde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht für immer an diese Maschinen in diesem elenden Raum gefesselt bleiben. Es lohnt sich also, weiter zu kämpfen. Es lohnt sich!


29.08.2019
Besuch von Mama. Sie zeigte mir ein Handyfoto, auf dem man den Grabstein von Noemi sieht. Er ist wunderschön. Ein dunkler Stein, uneben, aber trotzdem ruhig. Kein Spruch ist eingemeisselt, aber das Grab ist übersät mit vielerlei bunten Blumen. Da will ich hin. Irgendwann werde ich dich besuchen, Noemi. Bald.


05.09.2019
Die letzten Tage waren ermüdend, es geht alles viel zu langsam. Wenigstens habe ich jetzt ein Ziel, etwas, das mich vorantreibt. Noemi. Ich werde dich um Vergebung bitten. Ich weiss, es ist sinnlos, aber ich werde es tun. Für mich.


07.09.2019
Mama sagt, Yonas kommt nicht mehr. Danke, Yonas. Aber natürlich, ich versteh dich. Wer hat schon die Kraft, an der Seite einer halbtoten Kindsmörderin, die ihn nicht mal mehr erkennt, in die Zukunft zu gehen. Es ist okay, Yonas. Damit ist alles gesagt.
Dafür kommt Mama jetzt alle zwei Tage. Ich habe versucht, dankbar zu gucken – und war zum ersten Mal froh, als sie ging.
Ich weiss nicht, was ich ohne dieses Buch machen würde. Ich weiss überhaupt nichts mehr. – Doch: Mama wird mich mit dem Rollstuhl zu Noemi bringen. Das hat sie versprochen, und sie wird das Versprechen halten. Wenn die Zeit gekommen ist. Und die Zeit wird kommen. Das Gespräch mit Noemi wird mir nicht das Kind zurückgeben, aber vielleicht mich selbst. Dafür zu kämpfen – das bin ich mir verdammt noch mal schuldig.