Besuchszeit

Von Anja Obrist

Ist er das? Der Himmel, von dem der Pastor immer predigt? Wenn ja, dann will ich hier weg. Aber schnell.
Wo ist denn das Licht? Wo ist die Helligkeit, wo ist die Wärme, ja wo sind die Engel, wo ist Jesus, wo ist Mama? Nichts von alledem! Nur graue, kalte Endlosigkeit. Und es geschieht auch gar nichts! Es geht einfach nicht weiter. Aber das muss es doch. Hier kann doch nicht alles zu Ende sein, sonst wäre das ja alles gar nicht echt.
«Schatz. Schatz bitte, komm zurück. Schatz!»
«Schatz? Du nennst ihn Schatz? Dabei warst du nur auf sein Geld aus.»
«Was machst du hier?! Lass mich allein mit ihm. Er würde nicht wollen, dass du hier bist»
«Das ist immer noch mein Kind. Mein Fleisch und Blut.»
«Auf einmal interessierst du dich für ihn? Die letzten dreissig Jahre hat er dich ja kaum gekümmert. Versinken lassen in seiner Trauer hast du ihn, beschuldigt und erniedrigt. Und du glaubst, er möchte dich hier haben? Ausgerechnet jetzt?»
Ein Gehirn in einer grünlichen, brodelnden Flüssigkeit in einem Glas? Ist es das, was ich bin? Mein Gott, Schmidt, reiss dich zusammen. Jetzt ist wirklich nicht die Zeit für solche Gedanken. – Wie war das noch mal mit den unbekannten Gegebenheiten in der Chemie? Genau: Fakten, Analyse, Hypothese. Oder so ähnlich.
«Was soll das jetzt wieder heissen? Ich soll schuld sein an seiner verkrüppelten Psyche? Ehrlich, ich könnte auch nicht damit leben, die Mutter schon bei der Geburt in den Tod getrieben zu haben. Ein Teufelskind ist er, und deshalb hat er auch eine Hexe wie dich zur Frau!»
«Ich möchte, dass du sofort dieses Zimmer verlässt! Auf der Stelle. Diese negative Energie, die von dir ausgeht, kann er jetzt wirklich nicht gebrauchen.»
«Ah ja, da ist sie wieder. Deine Stärke, alle Schuld immer auf andere abzuwälzen. Aber weisst du was? Die einzige Schuldige an diesem ganzen Desaster bist du! Du warst es, die ihn dazu ermutigt hat, mit dem Motorrad zur Arbeit zu fahren. Dabei hat es am Morgen geregnet, der nasse Asphalt war mit Blättern übersät. Und du hast genau gewusst, dass seine alte Vespa in keinem guten Zustand mehr war.»
Gut, Fakten. Wir brauchen Fakten. Also. Erstens: Ich bin tot. Mein Körper schwebt unter mir, dünn und bleich, mit Kabeln auf der Brust. Gut. Zweitens: Ich – oh, das bin ja ich, als mein Vater mich zum ersten Mal in einen Freizeitpark mitgenommen hat. Damals war ich acht. Ein einziges Mal hat er mich – wie seinen Sohn behandelt. – Ich …
«Wie kannst du nur! Dein einziger Sohn liegt hier im Koma, und das Einzige, was dir dazu einfällt, sind absurde Schuld zuweisungen? Als hätte nicht ich ihn von seinen schrecklichen Albträumen erlöst, allein durch meine Liebe und Hingabe. Und als hätte nicht ich ihm geschenkt, was er von dir nie bekommen hat.»
Da – Lilly. Wie ich sie liebe, noch immer so sehr wie an unserem Hochzeitstag. – Und hier! Unsere Kinder, Linnea, Henry. Ihr wart die schönsten und glücklichsten Neugeborenen, die ich jemals gesehen habe. Ich will zu euch zurück. Euch noch einmal an mich drücken, euch sagen, wie lieb ich euch habe und dass ich – aber da sind wir ja alle: Zu viert toben wir uns im pulverigen Schnee aus, bewerfen uns gegenseitig mit Schneebällen und lachen unbekümmert. Die Kinder müssen gerade acht und neun geworden sein, die roten Nasen triefen, aber Lilly hat sie gut eingepackt, so dass sie sich nicht erkälten. Was ist das für ein wundervoller Nachmittag gewesen.
«Pst, siehst du? Eben hat sein Mund gezuckt.»
«Schatz! Schatz, hörst du mich?»
Langsam fühle ich mich echt wohl hier. Es ist so still, dass ich sogar das Blut durch meine Adern rauschen hören kann. Aber, Moment – wie soll das denn gehen? Ich habe ja gar keinen Körper mehr. Fakt eins war das. Genau, ich war noch immer bei den Fakten.
«Schatz. Bitte!»
«Hör endlich auf mit diesem Gejammer!»
«Könntest du nicht einmal still sein? Ich versuche gerade alles, um ihm zu helfen. Um ihn zu uns zurückzuholen.»
Also, drittens: Wo zur Hölle bin ich? Irgendwie ist das hier nicht der Himmel, obwohl es schon ziemlich angenehm ist. Aber es ist halt nicht hell, sondern grau und dunkel, kleine violette Rauchschwaden, oder Nebel. – Also nicht der Himmel. Habe ich vielleicht eine Abzweigung verpasst? Würde mir ähnlich sehen, ein grosses Schild zu übersehen, auf dem dick und fett «Highway to Heaven» steht. Wahrscheinlich habe ich stattdessen den Weg genommen, auf dem «Highway to Hell» steht. Aber jetzt mal im Ernst, Schmidt: Was tust du, wenn du in die Hölle kommst? Ich meine, wirklich? Dann ist alles – Moment. Da ist doch Licht. Von irgendwo kommt Licht in diese ganze dunkle Suppe. – Da muss ich hin.
Es wird warm, ich spüre die Wärme bis in die Fingerspitzen, obwohl es mich ja gar nicht mehr gibt. Und jetzt wird es richtig hell. So hell.