Das Abo

Von Olivia Studer

 
Ich starre auf die Rechnung und überfliege erneut die Mitteilung. Offene Rechnung … Bitte begleichen Sie diese innerhalb von 30 Tagen. Mit einer Hand schliesse ich den Briefkasten und mit der anderen taste ich nach dem Schlüssel in meiner Tasche.
Ich hebe den Kopf, als Frau Roths Stimme von der anderen Strassenseite zu mir herüberhallt. 
«Was schauen Sie denn so erschrocken, Frau Hauser? Haben Sie etwa ein Gespenst gesehen?» 
Ich räuspere mich. 
«Nein, nein, alles in Ordnung. Nur die Handyrechnung meines Sohnes – Sie wissen ja, wie Jugendliche sind.» 
Sie lacht laut auf und winkt mir zum Abschied zu. 
Ich stecke die Rechnung zurück in den Stapel der restlichen Briefe, erwidere Frau Roths Gruss und verschwinde rasch im Innern des Hauses. Mit grossen Schritten eile ich die Treppe hoch und stürze in Ramons Zimmer. Bevor er seinen Mund öffnen und mich darauf hinweisen kann, das nächste Mal doch bitte anzuklopfen, werfe ich den Brief vor ihm aufs Bett. Er streckt die Hand danach aus, verzieht dann das Gesicht. 
«Und was soll ich damit?», sagt er, während er die Rechnung zurück aufs Bett legt. 
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe ihn durchdringend an. «Ramon, du hast deine Rechnung wieder nicht bezahlt! Wie kannst du schon wieder Schulden haben?» 
Er dreht sich auf den Bauch, stützt den Kopf in die Hände und atmet tief ein: «Ich habe nichts damit zu tun. Schau doch mal, an wen sie adressiert ist. Bin ich etwa Papa?» 
Damit ist das Gespräch für ihn beendet und er dreht mir den Rücken zu. Seufzend verlasse ich das Zimmer und versuche vergeblich meinen Mann zu erreichen. Bis Sonntag wird er noch auf Geschäftsreise sein, doch so lange kann ich nicht warten. Das Familien-Abo für diesen Monat haben wir bereits bezahlt und der Betrag auf der Rechnung stimmt nicht mit unserem Abo überein. Es muss ein Fehler sein. 
Der Swisscom-Mitarbeiter schaut auf, als die Türklingel mein Eintreten verkündet, und ich stelle mich hinter einer älteren Frau mit Schnurtelefon in die Schlange. Es ist still im Geschäft, nur die Musik aus dem Radio dringt leise zu mir herüber und das neue Billig-Angebot an der Wand schreit mir in bunten Farben entgegen, davon zu profitieren. 
Die Frau vor mir ist an der Reihe, knallt das alte Schnurtelefon samt Hörer auf die Theke. Ich werde von einem anderen Mitarbeiter ebenfalls nach vorne gerufen. «Schauen Sie», sage ich, «wir haben eine Mahnung erhalten, allerdings für ein Einzel-Abo. Wurden vielleicht die Rechnungen verwechselt?» Der Mitarbeiter sieht sich den Brief genau an, gibt die Daten in den Computer ein. Ich trommle mit den Fingern auf die Theke und fixiere sein Gesicht. «Hm, es gab wohl wirklich eine Verwechslung», sagt er. «Wie es scheint, sollte die Mahnung für das Einzel-Abo an den Schmidweg 14 in Gränichen gesendet werden; die zweite Adresse, die hier eingetragen ist.» Ich höre auf zu trommeln und schaue den Mitarbeiter mit grossen Augen an. «Das kann nicht sein, wir haben kein Einzel-Abo. Nur ein Familien-Abo.» Die Stirn des Mitarbeiters legt sich in Falten «Hier ist aber noch ein Einzel-Abo eingetragen. Wir werden die Rechnung noch einmal schicken, an die richtige Adresse. Das ist alles, was ich für Sie tun kann», sagt er mit leicht genervtem Unterton und sein Blick wandert zur Warteschlange, die sich hinter mir gebildet hat. 
Ich biege in eine schmale Strasse mit vielen kleine Einfamilienhäusern ein, kurz vor dem Haus Nummer 14 halte ich an und ziehe die Handbremse. Ein wunderschönes, altes Haus. Eine Schaukel im Garten und ein Kinderbild, das ans Fenster geklebt wurde. Da öffnet sich die Tür. Eine Frau – vielleicht dreissig, dunkles, rotes Haar – tritt auf den Vorplatz, an ihr vorbei stürmt ein kleiner Junge. Seine Schuhsohlen blinken bei jedem Schritt. Er erinnert mich an Ramon, als er noch klein war, und ich wünsche mir nichts sehnlicher als diesen kleinen Jungen zurück, den kleinen Jungen, der keine Geheimnisse vor seiner Mutter hat. 
Ein Auto fährt an mir vorbei, parkt in der Hauseinfahrt. Das Auto kommt mir bekannt vor und ich mache mich klein. Ein Mann mit Aktentasche steigt aus dem Auto, die Frau schliesst ihn in die Arme und er drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. Jetzt erkenne ich sein Gesicht. Mein Atem stockt. – Geschäftsreise. Dieses Schwein. Ich lasse das Fenster einen Spaltbreit runter, schmeisse die Mahnung auf den Asphalt. Dann starte ich den Motor. Im Rückspiegel wird seine Gestalt immer kleiner. Dann ist er weg.