Der Augenblick

Von Caroline Buck

Alles hat mit der Spieldose begonnen. Ich hatte sie von meinen Eltern zu meinem fünften Geburtstag geschenkt bekommen. Das Gehäuse war milchweiss, verziert mit kleinen Rosen, goldenen Herzchen und winzigen Perlen. Wenn man den Deckel aufklappte und die Spieluhr aufzog, erklang Tschaikowskys Schwanensee. Die Balletttänzerin in der Mitte begann sich auf einer Zehenspitze zu drehen – der andere Fuss berührte ihr Knie. Sie trug ein weisses Tutu. Die Arme hielt sie zu einem Bogen geformt über dem Kopf; die Fingerspitzen waren gestreckt, berührten sich aber nicht. Ihr blondes Haar steckte in einem Dutt –zwei Strähnen umrahmten ihr porzellanenes Gesicht. Ich konnte Stunden damit verbringen, die Spieldose aufzuziehen und der Tänzerin dabei zusehen, wie sie eine Pirouette nach der anderen drehte.
Meine Faszination wurde von meinen Eltern entdeckt und sie meldeten mich in einer Ballettschule an. Ich kann mich noch genau an meine erste Stunde im Tanzsaal erinnern, obwohl es schon Jahre zurückliegt. Ich weiss noch, wie mir die Ballettlehrerin die Hand schüttelte. Ihr graues Haar war zu einem strengen Dutt frisiert, wie bei der Tänzerin in meiner Spieluhr. Mit dunklem russischem Akzent stellte sie sich als Madame Petrowa vor und wies mich an, mich hinter die anderen Mädchen an den Barren zu stellen. Die Mädchen waren genauso klein wie ich.
Ich beneidete sie um die farbigen Tüllröcke, die ledernen Schläppchen und das hübsch frisierte Haar. Meine Mutter hatte mich in ein einfaches T-Shirt und pinke Leggings gesteckt. Ich sah nicht aus wie eine Ballerina. Doch diesen Gedanken vergass ich schnell, als die Lehrerin das Radio anschaltete und nach einem Knacken die Musik erklang. Sie stellte sich vor uns hin und zeigte uns, welche Position wir einnehmen mussten. Ich bewunderte ihre elegante Haltung und die fliessenden Bewegungen, die so leicht ausschauten. Als ich jedoch versuchte, es ihr nachzutun, sah ich im Spiegel, dass es bei den anderen Mädchen und mir ganz anders ausschaute – unbeholfen irgendwie. Aber es machte grossen Spass.
Nach der Stunde kam mich meine Mutter holen und die Lehrerin fragte mich, ob ich denn nächste Woche wiederkommen wolle, und als ich bejahte, tätschelte sie mir den Kopf.
Von da an ging ich jede Woche hin. Ich freundete mich mit den anderen Mädchen an und lernte die strengen Seiten von Madame Petrowa kennen. Bald schon reichte mir die eine Stunde in der Woche nicht aus und ich ging zweimal ins Tanzstudio. Daraus wurden dann drei und vier und schliesslich war ich jeden Tag da.
Ich wurde geschmeidig und meine Bewegungen weniger wacklig. Als wir in der vierten Klasse einen Vortrag über unseren Traumberuf halten mussten, sagte ich, dass ich professionelle Balletttänzerin werden wollte. Und ich arbeitete jeden Tag mehrere Stunden, um meinen Traum zu verwirklichen. Ich war vielleicht nicht besonders talentiert – aber ich war leidenschaftlich und fleissig. Madame Petrowas Disziplin färbte auf mich ab.
Mit zehn Jahren bekam ich mein erstes Paar Spitzenschuhe. Ich weiss noch, wie aufgeregt ich war, als ich die Schuhe in den Händen hielt. Das Satin glänzte im Licht.
Schaute ich den älteren Mädchen im Tanzstudio zu, wie sie auf Spitze tanzten, sah es ganz leicht aus. Als würden sie über dem Boden schweben. Aber ich hatte schon lange genug selbst Ballett getanzt, um mich nicht davon täuschen zu lassen.
Es dauerte nicht lange und es wurde zur täglichen Routine, die Bänder an die Spitzenschuhe zu nähen und mithilfe von verschiedensten Methoden die Zehenbox und das Leder weicher zu machen, damit ich noch besser tanzen konnte.
Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um.
«Nervös?» Die Stimme kommt aus der Dunkelheit. Sie gehört meiner Kollegin Amy.
Anstatt ihr zu antworten, werfe ich ihr ein flatterhaftes Lächeln zu.
Es gibt kein Wort, das meine Gefühle beschreiben kann. Natürlich bin ich aufgeregt. Gleichzeitig habe ich Angst – andererseits kann ich es nicht erwarten, ins Licht zu treten. Ich bin glücklich, und ich will schreien.
Es fühlt sich genauso an wie vor meinem ersten Wettbewerb. Wenn ich die Augen schliesse, kann ich Madame Petrowas raue Stimme hören.

«Vergiss die Arme nicht. – Tut dein Zeh noch weh?»
«Nein», log ich. Der Zeh war nicht gebrochen – aber er tat höllisch weh. Dennoch wäre es lächerlich gewesen, mich in diesem Moment aus dem Wettbewerb zurückzuziehen – nach all den Monaten des Probens. Jeder Tänzerin taten die Füsse weh, immer – das war nichts besonders. Ich musste die Zähne zusammenbeissen, nur für diese paar Minuten.
«Und das Lächeln nicht vergessen», mahnte mich meine Lehrerin.
Madame Petrowa machte sich an meinem Dutt zu schaffen. Die Haarklammern ziepten an meiner Kopfhaut.
«Du kannst ein Stipendium bekommen. Du kannst das schaffen.» Sie klopfte mir auf die Schulter.
Und tatsächlich bekam ich ein Stipendium – von einer Akademie im Ausland. Mit fünfzehn Jahren zog ich in ein anderes Land und lebte in einer fremden Stadt. Am Anfang war es schwierig – so ganz alleine. Ich arbeitete hart und diszipliniert und verzichtete auf vieles. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens, weinte aber auch oft. Und manchmal zweifelte ich an mir, doch meine Leidenschaft siegte jedes Mal über die Zweifel – ich liess mich einfach nicht kleinkriegen.

Ich spüre jeden Muskel in meinem Körper. Amy tritt einige Schritte zurück und dehnt ihre Beine. Ich schaue zurück auf die Bühne. Im Gegenlicht folge ich den kraftvollen Bewegungen des Tänzers. Wenn er springt, scheint er für einen Moment zu fliegen.
Ich atme tief durch; schüttle meine Arme; balanciere auf den Zehenspitzen.
Bald kommt der Augenblick, auf den ich mein ganzes Leben hingearbeitet habe – mein erster Auftritt als Solistin einer Kompanie. Wenn ich jetzt gleich auf die Bühne trete, sind alle Augen auf mich gerichtet, jeder im Publikum kennt meinen Namen, weil er im Programmheft als einer der ersten aufgeführt wird.
Der Tänzer auf der Bühne springt, dreht sich in der Luft zweimal um sich selbst und landet mit der letzten Note des Musikstücks auf seinen Knien. Applaus erfüllt das Theater. Elegant erhebt sich der Tänzer vom Boden und senkt den Kopf, ehe er von der Bühne schreitet.
Als es wieder ganz still ist, ist mein Augenblick da. Der Dirigent hebt den Taktstock, und wie das Orchester die ersten Töne spielt, betrete ich die Bühne.