Der, der die Zeit einfing

Von Caroline Buck


Timo stand vor dem Spiegel im Badezimmer und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Ein Seufzen kam über seine Lippen. Nein, das konnte nicht sein. Er beugte sich weiter vor und betrachtete sich im Spiegel. Es musste am Licht liegen. Er hatte braunes Haar und das was er da sah, konnte keine graue Strähne sein! In seinem Schlafzimmer würden seine Haare ihre ganz normale Farbe wiederhaben. Timo trat so nahe an den Spiegel heran, bis seine Nasenspitze dagegen stiess.
«Schrecklich. Ich sollte die Glühbirne auswechseln», murmelte er leise.
Nun war er dreiunddreissig Jahre alt. Hatte die erste graue Strähne auf dem Kopf – auch wenn er es nicht zugeben wollte. Wann nur war die Zeit so an ihm vorbeigerast? War er nicht gerade noch am Gymnasium gewesen? Er hatte gelernt, gefeiert, genossen. Das Leben hatte endlos gewirkt. Jetzt aber – in sieben Jahren würde er vierzig sein – und dann hätte er wahrscheinlich die Hälfte seines Lebens hinter sich. Alles andere als endlos.
Und was hatte er bis jetzt erreicht?
Nichts.
Andere in seinem Alter heirateten, waren auf der Suche nach sich selbst oder machten Karriere. Aber er? Jeden Tag schrillte sein Wecker um fünf Uhr fünfundvierzig und Timo quälte sich aus seinem Bett – sogar an den Wochenenden. Sobald er in die Küche geschlurft war, drückte er auf den Knopf der Kaffeemaschine und trank im Stehen einen Espresso. Montags bis freitags schleppte er sich um halb acht ins Büro, wo er bis sechzehn Uhr mit gekrümmten Rücken an seinem Bürotisch sass und so lange auf die Computertastatur einhämmerte, bis seine Finger schmerzten und sein Kopf brummte. Danach fuhr er mit der Strassenbahn – eingequetscht zwischen all den anderen Menschen – nach Hause. Zuerst machte er allerdings einen Abstecher zum asiatischen Take-away um die Ecke; nur selten hatte er das Glück, dass ihm seine Mutter die Reste vom Mittagessen vorbeibrachte, die er sich in der Mikrowelle aufwärmen konnte. Mit dem dampfenden Essen hockte er sich anschliessend für den Rest des Abends vor den Fernseher.
Da war nichts Bemerkenswertes in seinem Leben und dennoch zogen die Tage an ihm vorbei. Einer nach dem anderen. Tage, Wochen, Jahre. Einfach so.
Etwas musste man doch tun können! So konnte – durfte! – es einfach nicht weitergehen. Wenn schon die ersten dreiunddreissig Jahre seines Lebens so schnell vorbeigegangen war, wie schnell verging dann erst der Rest?
Im orangefarbenen Schein der Spiegelschranklampe fasste Timo den Beschluss:
«Na gut. Ich habe keine Wahl. Fang ich eben die Zeit ein!»
Er rieb sich die Hände und schaute entschlossen in den Spiegel. Die pfützengrauen Augen seines Spiegelbildes funkelten ihm abenteuerlustig entgegen.
Timo verliess das Badezimmer, ging durch den engen Gang und stiess die Tür zu seinem Schlafzimmer auf. Was zog man an, wenn man die Zeit anfangen wollte?
Timo durchwühlte seinen Kleiderschrank. Die Hemden und Hosen flogen durch sein Zimmer, landeten auf dem Bett, segelten zu Boden oder häuften sich auf dem hölzernen Hocker. Schliesslich wurde er fündig. In den Tiefen seines Schranks war er auf ein Hemd mit kitschigem Abendhimmel und Palmen gestossen, das er sich vor Jahren im Urlaub gekauft und noch nie getragen hatte. Zu welchem Anlass hätte er es auch anziehen sollen? Für das Büro war das Hemd viel zu auffällig. Passend zum Hemd schlüpfte er in eine Chinohose, von der er nicht mal gewusst hatte, dass er sie besass. Auf seinen Kopf setzte er sich den lehmbraunen Hut mit Krempe, den ihm seine überfürsorgliche Mutter geschenkt hatte, damit er sich keinen Sonnenbrand holte.
Timo vermied einen weiteren Blick in den Spiegel, bevor er die Wohnung verliess. Er schloss die Tür ab und verstaute den Schlüssel in dem Jutesack, der an seiner Schulter baumelte.
«Was tust du da?»
Timo drehte sich um. Auf den Stufen, die eine Etage höher führten, hockte ein kleines Mädchen. In ihren Händen hielt sie ein Buch – Grundlagen der Astrophysik. Timo unterdrückte ein Seufzen. Hortensia, das Nachbarsmädchen, würde ihn noch von seiner Mission abbringen. Bestimmt würde sie ihm jetzt einen Vortrag über Astrophysik halten und dabei betonen, wie intelligent sie doch war. «Hochintelligent», wie Frau Weile, Hortensias Mutter, stets mit gerecktem Kinn behauptete.
Durch die runden Gläser ihrer Brille blickte ihn Hortensia abwartend an.
«Ich fange die Zeit ein», sagte Timo einfach und hoffte, dass ihn Hortensia in Ruhe lassen würde. Doch sie rümpfte die Nase.
«Das geht gar nicht.»
«Wieso denn nicht?»
Hortensie rückte die Brille zurecht, die ihre Stupsnase heruntergerutscht war, und musterte ihn.
«Das geht eben einfach nicht», erklärte sie entschieden. Plötzlich runzelte sie die Stirn. «Aber na ja, meine Mutter hat sowieso gesagt, sie halte dich für einen schrägen Vogel. Ein netter Nachbar ja, aber er hat seine Macken – das hat sie mal gesagt.»
«Schön», antwortete Timo, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. «Dann also –»
«Warte! Ich komme mit!»
Hortensia klappte das Buch zu, hüpfte von der Treppe auf und strich den pinken Tüllrock glatt.
«Du kommst mit?», wiederholte Timo erschrocken. «Wieso kommst du denn mit? Du hast doch gesagt, man könne die Zeit gar nicht einfangen.»
«Stimmt. Ich will aber sehen, wie du es versuchst – und scheiterst. Warte hier auf mich!» Hortensia rannte hoch und Timo hörte, wie ein Stockwerk über ihm eine Tür ins Schloss fiel und kurz darauf wieder aufgezogen wurde. Er überlegte, sich einfach aus dem Staub zu machen. Er hatte keine Lust, auf Hortensia aufzupassen und sich ihre altklugen Kommentare anzuhören. Doch da stand sie schon wieder vor ihm. Mit einer glitzernden Schirmmütze auf den honigblonden Locken.
«Wir können gehen!», verkündete Hortensia und marschierte voraus.
Als sie aus dem Wohnhaus hinaustraten, schlug ihnen die schwüle Sommerluft entgegen und raubte ihnen für einen kurzen Moment den Atem. Die Sonne brannte gnadenlos auf sie nieder und Timo war froh, dass er seinen Hut aufhatte. Beim nächsten Familienessen musste er seiner Mutter danken.
Sie liefen die Strasse entlang und blieben an einer Fussgängerampel stehen. Schon jetzt hatte Timo das Gefühl zu schmelzen. Vielleicht wäre es schlauer gewesen, im Winter die Zeit einzufangen. Aber vor Hortensia wollte Timo nicht aufgeben.
«Wo willst du überhaupt anfangen?» Fragend blinzelte das Mädchen zu ihm hoch.
«Die Stadt ist gross. Irgendwo werden wir schon auf die Zeit stossen.»
«Okay, du hast also keinen Plan. Und ich sage dir auch weshalb: weil man die Zeit nicht einfangen kann!»
«Ein Jäger hat auch keinen Plan, wenn er auf die Jagd geht.»
«Definitiv hat er eine Ahnung davon, wo er anfangen soll.»
«Woher willst du das wissen? Du bist ein Stadtkind.»
«Du doch auch.»
Hortensia hatte recht. Timo war hier geboren worden. Wie seine Eltern und sogar seine Grosseltern.
«Und woher weisst du das?», fragte Timo.
«Ich habe recherchiert», antwortete Hortensia und sah ihn an, als ticke er nicht ganz richtig. «Man muss seine Nachbarn schliesslich kennen.»
Ziellos wanderte Timo durch die Stadt und Hortensia trabte brav neben ihm her. Als sie durch einen Park schlenderten, entdeckte Hortensia eine Eisdiele. Sie packte Timo am Arm und zwang ihn, stehen zu bleiben.
Keine fünf Minuten später standen die beiden mit zwei Eiswaffeln im Schatten einer Buche. Timo hatte lieber zwei Kugeln Eis bezahlt, als sich weiterhin Hortensias Gejammer anzuhören. Gestärkt durch den vielen Zucker, setzten sie ihren Weg fort. Die Gebäude wurden älter und rückten immer näher zusammen. Der Verkehrslärm verstummte und die Strassen wurden zu Gässchen.
«Du musst es einsehen, Timo. Du scheiterst», meinte Hortensia.
Timo hatte tatsächlich nicht gedacht, dass es so schwierig sein würde, die Zeit einzufangen. Aufgeben wollte er jedoch auf keinen Fall. So sollte es nicht enden. Deshalb schritt er zielstrebig voraus und hörte in seinem Rücken Hortensias frustriertes Seufzen.
Er musterte die Häuser und plötzlich fiel ihm ein Schild ins Auge: Drescher – Uhrmacher. Da musste er hin! Beinahe rannte er zu dem winzigen Laden.
Ein Bimmeln kündigte sein Eintreten an. An den Wänden hingen die verschiedensten Uhren, hinter dem Tresen stand ein Mann. Er beugte sich tief über eine Kuckucksuhr. Sein Haar war weiss und erinnerte Timo an Hühnerfedern. Erst als er sich räusperte, schaute der Mann mit überraschter Miene auf.
«Ach –. Guten Tag!» Er legte ein winziges Zahnrad zur Seite. «Ich hatte heute nicht mehr mit Kundschaft gerechnet!» Die öligen Hände wischte er an der Schürze ab. «Was kann ich denn für Sie tun?»
«Timo will die Zeit einfangen», meldete sich Hortensia und verdrehte die Augen.
«Die Zeit?» Der Uhrmacher blickte Timo noch verdutzter an.
«Ja, genau. Sagen Sie ihm, dass das totaler Unsinn ist. Ich will endlich nach Hause.»
«Weshalb wollen Sie denn die Zeit einfangen, junger Herr?»
«Sie geht viel zu schnell vorbei», antwortete Timo.
Der Uhrmacher nickte. «Wissen Sie, das wird nicht besser werden. Denn Sie werden immer langsamer.»
«Deshalb muss ich die Zeit verlangsamen!»
«Zeit ist nützlich. Sie schafft Ordnung. Wenn die Zeit nicht wäre, wären alle, die jemals diesen Laden betreten haben, hier drin», warf Hortensia ein und zog besserwisserisch die Brauen hoch.
Gleichzeitig runzelten Timo und der Uhrmacher die Stirn.
«Ich verstehe zwar nicht, was die Kleine da sagt, und kann auch nicht beurteilen, ob es stimmt. Aber ich kann Ihnen sagen, was ich von der Zeit weiss – schliesslich dreht sich mein Handwerk darum.» Der Uhrmacher setzte ein neues Zahnrad in die Uhr ein. «Sie scheinen jemand zu sein, der sich fürchtet zu leben
Entrüstet wollte Timo widersprechen, doch der Uhrmacher hob die Hände. «Natürlich werden Sie jetzt sagen, dass dem nicht so ist. Jeder würde das behaupten! Sehen Sie, wir schwelgen in Erinnerungen, sorgen uns um die Zukunft und nehmen das Hier und Jetzt nicht immer klar wahr – das ist jedenfalls meine Meinung. Ein Moment wird erst in der Erinnerung wichtig oder bedeutungslos für uns. So sollte es aber nicht sein, nicht wahr? Die Erinnerungen sind mehr als nur Vergangenheit, und das Jetzt müssen wir geniessen. Jede Sekunde ist einzigartig. Die Welt ist gross. Es gibt vieles zu erleben. Es gibt zahllose Momente – und die warten nur darauf, dass man sie lebt. Noch haben Sie die Zeit dazu. Also machen Sie jeden Augenblick einzigartig!»
Mit dem Zeigefinger strich der Uhrmacher über seine schnabelartige Nase. Hortensia hatte ihm mit hochgezogenen Brauen gelauscht und überraschenderweise keinen Mucks von sich gegeben.
«Erinnerungen sind doch nichts Schlechtes», sagte Timo.
«Natürlich nicht. Sie sind eine Art Konservendose der Zeit. Erinnerungen definieren uns – ganz gleich ob sie nun schlecht oder gut sind. Was wäre ein Mensch ohne seine Erinnerungen? Nichts. Unsere Erinnerungen verbinden unsere Vergangenheit mit unserer Gegenwart. In gewisser Weise sind wir also auch unsere Erinnerungen. Nur so können wir die Gegenwart geniessen, jeden einzelnen Moment. Und nur so, indem wir den Moment einfangen, können wir die Zeit einfangen. »
Timo kratzte sich an der Nase, schaute auf Hortensia hinunter und sagte: «Ich – ich glaube, Sie haben Recht.»
«Ich bin ein alter Mann. Vielleicht habe ich Recht. Vielleicht täusche ich mich auch.»
«Vielen Dank für – Ihren Rat.»
«Wenn Sie mal jemanden brauchen, der eine Uhr reparieren kann, wissen sie ja, wo Sie mich finden können.»
Wenig später sassen Timo und Hortensia in der Strassenbahn, die gemächlich in Richtung ihres Viertels fuhr. Hortensia hatte sich geweigert, zu Fuss nach Hause zu gehen. Nun liess sie neben Timo die Beine vom Sitz baumeln. Mit verschränkten Armen hockte sie da; auf ihren Lippen zeichnete sich ein zufriedenes Grinsen ab.
«Was?»
«Ich habe es dir doch gesagt.»
Timo nahm den Hut vom Kopf und drehte ihn in seinen Händen. Ja, er hatte die Zeit heute nicht eingefangen, da hatte Hortensia Recht. Aber morgen war auch noch ein Tag.