Die Pianistin

Von Caroline Buck

«Nimm du die Einkäufe, Klara!» Mutter war schon fast beim Ausgang. Lila hüpfte hinter ihr her und grapschte nach ihrer Hand, der zerknitterten Hand mit den langen Fingern, die Grosses auf dem Klavier vollbracht hatten. Das Glöckchen bimmelte, als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel. Ich verabschiedete mich von dem Verkäufer und griff nach der Tasche. Hatten wir wirklich so viel eingekauft? Das Gewicht liess meinen Arm schmerzen.
Draussen regnete es in Strömen, eine mattgraue schraffierte Fläche. Mit einem explosionsartigen Geräusch, das mich zusammenzucken liess, sprang Mutters Regenschirm auf und sie hielt ihn sich über den Kopf. Ihr streng frisiertes Haar war weiss, wie der Dampf, der sich in die Luft kräuselte.
Sie stiess ein bellendes Lachen aus, als sie bemerkte, dass ich keinen Regenschirm eingepackt hatte. Lila kicherte mit, aber in ihren Augen sah ich, dass sie gar nicht verstand, was da so lustig sein sollte.
«Naturwissenschaftlerin», sagte Mutter – es klang wie eine Beschimpfung. Weil ich Noten gegen Zahlen, Klavierspielen gegen mathematische Gleichungen ausgetauscht hatte. «Jemand wie du sollte wissen, wann er einen Regenschirm mitzunehmen hat.» Sie drehte sich um. Langes Gesicht, weit auseinanderstehende Augen, Lippen wie Streichhölzer.
Bevor mir etwas zu ihrer Bemerkung einfiel, ging sie weiter, stramm durch die Altstadt, über die sich der Himmel wie eine graue Plane spannte. Lila sprang vergnügt von Pfütze zu Pfütze, manchmal gefährlich nah bei ihrer Grossmutter.
«Lass das, Lila, du wirst ja ganz nass!», sagte Mutter, als Lila in einer Pfütze neben ihr landete. Lila schien ihre Grossmutter nicht gehört zu haben. Sie rannte bereits zur nächsten Pfütze und quietschte vor Vergnügen. Die knallgrünen Gummistiefel leuchteten, der Wind wühlte durch ihre dunklen Locken. Mit weit herausgestreckter Zunge fing sie die Regentropfen auf.
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, während Mutter ihr Tempo erhöhte. Die Auslagen in den Schaufenstern würdigte sie keines Blickes.
Mir blieb nichts anderes übrig, als hinter ihr herzueilen.
So war es schon gewesen, als ich ein kleines Mädchen war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie jemals meine Hand gehalten hätte, wenn wir auf Konzertreisen durch riesige, mir unbekannte Städte hasteten. Mutter voraus, ich hinterher – so war es immer. Und nie wandte sie sich nach mir um. Sie hatte ganz selbstverständlich darauf vertraut, dass ihr Kind irgendwie Schritt halten würde.
Die Tropfen prasselten gegen meine Kapuze und es klang, als würden abertausende von Bleistiftminen zerbrechen.
Mutter lebte am äusseren Ring der Altstadt. In einem charmanten Wohnhaus, das den Eindruck machte, als würde es gleich in den Fluss kippen, der die Stadt einfasste.
Wir stiegen in den zweiten Stock, und bevor wir die Wohnung betraten, zogen wir die nassen Schuhe aus.
«Du weisst ja, wo die Lebensmittel hinkommen», sagte Mutter. «Die Himbeeren in den Tiefkühler – und wenn du schon dabei bist, mach mir gleich noch einen Kaffee – ohne Milch, ohne Zucker.»
Mama hängte ihre Jacke an den Garderobenständer und legte den Regenschirm zum Trocknen auf die Heizung. Ich schüttelte den Kopf.
Mein Blick wurde so düster wie der Himmel draussen. «Danke für die konkreten Anweisungen, Mutter. Einmal mehr frage ich mich, wieso du Pianistin geworden bist.»
Die linke Augenbraue meiner Mutter zuckte. «Wie bitte?»
«Du wärst ein grossartiger Kompaniekommandant gewesen. Alle hätten nach deiner Pfeife getanzt. Aber nein, du hast dich für die Konzertsäle der Welt entschieden. Das soll einer verstehen.»
Mutter schnaubte und wandte sich mir zu. «Mach dich nicht lächerlich.»
Ohne ein weiteres Wort ging ich an ihr vorbei in die Küche. Notenblätter klebten am Kühlschrank und an der Anrichte. Neben dem Herd stand ein kleines Radio. Ich machte es an. Frequenz hundertsechskommadrei – der Klassiksender spielte Beethovens fünfte Symphonie.
Ich wartete, bis der Kaffee fertig war – ohne Milch, ohne Zucker – und brachte ihn meiner Mutter ins Wohnzimmer. Sie sass mit übereinandergeschlagenen Beinen in ihrem Sessel und rauchte. Die Zigarette klemmte zwischen Zeige- und Mittelfinger.
«Hier.» Ich reichte ihr die Tasse und liess mich auf dem Sofa nieder. Der Rauch kitzelte in meiner Nase.
In der Mitte des Wohnzimmers befand sich das Klavier. Ein Pleyel. Auf diesem Modell hatte Mutter das Klavierspiel gelernt. Die Tasten hatten die Farbe von vergilbtem Papier. Es war das erste Klavier, dessen Tasten ich berührt hatte.
Neben dem Sofa stand ein Grammophon. Der goldene Trichter sah aus wie eine Lilie. Ein Wandregal war gefüllt mit Schallplatten, CDs und Büchern. Bücher über Musik. Als kleines Mädchen hatte ich keine Märchen von ihr zu hören bekommen; stattdessen hatte sie mir Künstlerbiografien vorgelesen, von den grossen Komponisten und Musikern erzählt – und natürlich von ihrer eigenen Karriere. Das talentierte Mädchen aus einer armen Arbeiterfamilie, das sich gegen alle Widerstände einen Platz am Konservatorium gesichert hatte. Schmerzende Finger, auf sich allein gestellt, den einen Traum vor Augen. Eigentlich der perfekte Stoff für einen Film.
Auf einer Kommode standen Fotos. Eines zeigte meine Mutter, da war sie einige Jahre jünger als ich. Im Hintergrund, angeschnitten, ein Konzertflügel. In ihren Armen lag ein prächtiger Blumenstrauss. Auf den Lippen ein zurückhaltendes Lächeln, in den Augen funkelte der Stolz. Ihr erstes grosses Konzert.
Ich musste an ihr Lachen denken. Wenn ihre Fassade bröckelte und es aus ihr herausbrach – ein wirkliches, wahrhaftiges Lachen. Tausende von Menschen konnten sie Chopin spielen hören, doch ihr Lachen – das war nur für mich. Es war mir kostbarer gewesen als jedes Stück Schmuck.
Ich schaute zurück zum Klavier. Meine Blicke kehrten immer wieder dorthin zurück, wenn ich bei ihr war. Es war der bedeutendste Gegenstand, es war das Zentrum der Wohnung, des Lebens meiner Mutter – und meines eigenen.
«Spielst du für uns?», fragte Lila und stützte sich mit ihren winzigen Händen auf den Knien ihrer Grossmutter ab.
Sie drückte die Zigarette im kristallenen Aschenbecher aus. «Jetzt nicht.»
Lila setzte ein enttäuschtes Gesicht auf, doch Mutter liess sich nicht erweichen.
Ich seufzte. Das hiess, ich musste mich mit ihr unterhalten – wahrscheinlich hatte sie wieder etwas zu kritisieren. Mir wäre es lieber, wenn Mutter etwas spielen würde.
Wenn sie spielte, war es wie Magie. Wunderschön. Wenn sie spielte, wünschte ich mir, ich hätte mir Mühe gegeben mit der Musik. Ich bereute nicht, dass ich nicht das Konservatorium besucht hatte – da hatte ich einfach nicht hingehört. Aber ich bereute, jahrelang kein Klavier mehr berührt zu haben, aus kindischem Protest. Jetzt beherrschte ich nur noch einige Bruchstücke, Scherben der schönsten Stücke der Welt – und das nicht einmal passabel.
Während Lila auf dem Fussboden hockte und versuchte, ihre Zehen zu berühren, steckte sich Mutter eine weitere Zigarette an, griff nach der Kaffeetasse und führte sie an die Lippen.
Wir hielten Smalltalk. Mutter fragte mich nach meinem Ehemann und nach meiner Arbeit. Weil ich keine Lust auf kritische Kommentare hatte, antwortete ich mit einem knappen «gut» und erkundigte mich, wie sie denn so zurechtkomme, worauf sie sich verärgert an Lila wandte und sie nach der Schule fragte. Sobald Mutter ihren Kaffee ausgetrunken hatte, sammelte ich unsere Tassen ein und brachte sie in die Küche, um sie dort zu spülen.
«Wir sollten uns langsam Gedanken machen», sagte Mutter, die mir in die Küche gefolgt war.
Ich drehte den Hahn zu. «Worüber sollten wir uns Gedanken machen?»
«Über Lila natürlich.»
«Und worüber genau machst du dir Gedanken?»
«Sie braucht einen Klavierlehrer.»
Ich lachte. «Einen Klavierlehrer?»
«Eigentlich eine Lehrerin. Das ist besser.»
Sie nahm mir die abgetrocknete Tasse aus der Hand und stellte sie in die hochbeinige Vitrine zu den anderen Kaffeetassen.
«Lila ist viel zu jung!», sagte ich.
«Unsinn. In ihrem Alter habe ich Klavierspielen gelernt, und dich habe ich auch zum ersten Mal hinters Klavier gesetzt.»
«Ja, genau, du hast mich hinters Klavier gesetzt! Lila soll selbst entscheiden, ob sie das will oder nicht. Du hast mir nie die Wahl gelassen.»
Mutter schüttelte den Kopf – die Lippen aufeinandergepresst, so dass das Blut aus ihnen wich. «Jetzt bin ich wieder die Böse. Die ehrgeizige Mutter, die ihr sensibles Töchterchen zum Klavierspielen gezwungen hat. In deinem Kopf bin ich immer die Feindin – die böse Mutter.» Sie schnaubte. «Vielleicht kannst du dich nicht mehr erinnern, doch in Wahrheit wolltest du spielen. Du hast mich darum angebettelt.»
«Und auf das Konservatorium wollte ich auch? Nein, wollte ich nicht! Und ich bin froh, nicht das gemacht zu haben, was du verlangt hast. Ganz im Gegenteil, und ich bin froh, habe ich deinem Drängen nicht nachgegeben.»
Tatsächlich hatte ich das Klavier geliebt, doch meine Beziehung zum Klavier war der zur meiner Mutter immer schon ähnlich gewesen. Unglaublich kompliziert. Und irgendwann hatte ich einfach nicht mehr spielen mögen. Wahrscheinlich gab es nicht einmal einen richtigen Grund dafür. Es war mir verleidet – das ständige Üben, die Stimme meiner Mutter im Nacken. Und immer wurde ich mit ihr verglichen. Dabei hatte ich nie irgendwelche Ambitionen. Mir war klar gewesen, dass ich ihr niemals würde das Wasser reichen können. Sie war die Pianistin – die Meisterin der Tasten.
«Ich wollte immer nur das Beste für dich!»
«Mag sein. Aber du hast nicht gesehen, was das Beste für mich war.» Ich stütze mich auf den Rand des Spülbeckens. Die Haare hingen mir ins Gesicht. «Du hast mir immer nur Schuldgefühle gemacht. Und es hat funktioniert. Dabei hätte ich gar nichts zu bereuen gehabt. Ich tat, was sich richtig anfühlte. Zahlen und Gleichungen. Ja, ich war glücklich damit – und ich bin es heute noch. Du hingegen – du hast nur an dich gedacht.»
«Nur an mich gedacht? – Jeden Tag habe ich nur an dich gedacht – nicht an mich! Ich habe alles getan, damit du ein gutes Leben hast. Ich war Mutter, Pianistin und auch noch Vater – weil sich der Feigling ja nie blicken liess. Alles gleichzeitig! Und du wirfst mir vor, ich hätte dir deine Kindheit zur Hölle gemacht.» Sie beugte sich zu mir vor, so, dass ich aus den Augenwinkeln ihr Gesicht sah. War sie wütend oder traurig? «Sag mir, hattest du tatsächlich ein so miserables Leben?»
Nein, das hatte ich nicht. Aber ich sprach die Worte nicht laut aus. Stattdessen dachte ich zurück an die Jahre als kleines Mädchen. Die fremden Städte – alle paar Wochen ein neues Abenteuer, ein anderes nobles Hotel. Mutter hinter einem glänzenden Flügel, ein Meer aus Menschen, das ihr stehend applaudierte. Ich erinnerte mich daran, wie sie mir abends die Haare bürstete, sie zu einem Zopf flocht, während sie mir Geschichten erzählte. Aus der Welt der Musik.
Meine Mutter war eine fantastische Geschichtenerzählerin gewesen. Und ein Rätsel geblieben. Ich wusste nie, was sie dachte. Sie hüllte sich in einen Mantel aus Ernsthaftigkeit und Strenge, den sie nie fallen liess. Und sie war ein Sturkopf – die Dinge mussten so ablaufen, wie sie es wollte. Immer.
Ich trocknete meine Hände an einem Tuch ab und mied den Blick meiner Mutter, die auf eine Antwort wartete. Ihre Finger spielten eine Melodie auf den Oberschenkeln. Rachmaninow, vielleicht, gegen die Wut.
«Nein, ich hatte kein miserables Leben», sagte ich schliesslich. «Aber es wäre zu einem geworden, wenn ich das getan hätte, was du von mir verlangt hast.»
Mutter schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht.
«Ich bin Lilas Mutter – verstehst du! Ich will nicht, dass du dich in ihre Erziehung einmischst. Sie soll eine Kindheit haben, wie weder du noch ich sie hatten, und Lila wird ihren Weg finden – mit oder ohne Zahlen. Mit oder ohne Musik.»
Ohne Musik. Ich konnte sehen, wie sehr das meiner Mutter widerstrebte. Schon nur der Gedanke erschien ihr unerhört. Ein Leben ohne Musik war für sie keines.
«Wie du willst. Doch du wirst es bereuen.»
Stille breitete sich zwischen uns aus wie plötzlich aufziehender Nebel. Ich stellte die zweite Kaffeetasse in die Vitrine und liess die Löffel zurück in die Schublade fallen. Es schepperte.
«Wir sollten jetzt gehen.» Meine Stimme klang kühl, abweisend sogar.
Mutter schluckte, rang für einige Sekunden mit sich selbst, verschränkte die Hände vor der Brust. Ihr Gesicht war wieder zu einer Maske versteinert.
Sie begleitete Lila und mich vor die Tür, wo wir unsere Schuhe anzogen.
«Ich hoffe, ihr kommt mich bald wieder besuchen», sagte sie. Dabei schaute sie nur Lila an.
«Natürlich kommen wir bald wieder, Oma», versicherte ihr Lila und blinzelte mit einem Lächeln auf den Lippen zu ihr hoch. Mutter tätschelte ihren Kopf.
Als ich mit Lila an der Hand die Stufen hinunterstieg, waren die ersten perlenden Töne zu hören. Leicht und schön. Und perfekt. Mutter spielte.