Die Sanduhr

Von Priska Steinebrunner


Ich stolpere, bleibe stehen und sehe mich um. Die Menschen um mich herum machen einen grossen Bogen um die gewaltige Sanduhr, die in der Mitte der Halle steht. Keiner scheint es zu wagen, auch nur einen Blick auf das Ungetüm zu werfen, obwohl seine Präsenz bis in jeden Winkel der Halle spürbar ist. Gebückt hetzen und wuseln die Menschen durch die Halle, von einem Eingang zum anderen, den Blick zu Boden gerichtet. Ich bin die Einzige, die inmitten der Halle steht und auf die Sanduhr starrt. In einem stetigen roten Strom fliesst der Sand vom oberen Glas in das untere, Sandkorn für Sandkorn. Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich so etwas Gewaltiges bis jetzt nie beachtet habe. Dabei bereitet mir der Anblick fast körperliche Schmerzen, und ich kann ein Zittern nicht unterdrücken, doch wegblicken kann ich genauso wenig.
Ich sehe Menschen vor mir. Sie leben in einer Höhle und blicken immerzu an die Wand in der Tiefe. Dort sehen sie die Schatten der Dinge, die draussen vom Licht beschienen werden, und sie halten sie für die Wirklichkeit, weil es für sie keine andere Wirklichkeit gibt. Wenn sich einer umdreht und die Höhle verlässt, so wird ihm das Licht in den Augen wehtun, und er wird zurückwollen, obwohl er nun die wahre Gestalt der Realität erkennt. Er sieht die Farben, die Konturen, er erblickt das Licht der Welt. Und wenn er dann zurückkehrt, so wird er anders sein als die anderen, denn in seiner Realität ist die ihrige nur ein Schatten. So ist das mit der Sanduhr. Nie wieder werde ich sie nicht beachten können. Diese Vorstellung hat etwas Furchteinflössendes, doch gleichzeitig ist da ein Gefühl, das ich nicht benennen kann. Es ist warm und kalt zugleich, aufwühlend, und es erfüllt mich mit einer Ruhe, die ich noch nie so empfunden habe.
Ich verstehe nicht mehr, wer ich gewesen bin. Immer umherlaufend, irgendwelchen Zielen folgend, die mir jetzt so sinnlos und nichtig vorkommen, als wäre ich aus einem langen Traum erwacht. Ich bin in der Halle stehengeblieben, weil ich nicht mehr konnte, weil ich ausgebrannt war, müde, schwach. Und nur deshalb habe ich überhaupt die Sanduhr beachtet, die realer scheint als meine eigene Existenz. Alles, was ich für wirklich gehalten habe, alles, was mich bis jetzt ausgemacht hat, verblasst nun, während ich diesem riesigen Stundenglas gegenüberstehe. Der Sand fliesst und fliesst, die Welt könnte untergehen, und er würde immer noch fliessen, Sandkorn für Sandkorn.
Und jetzt? Was wird jetzt mit mir geschehen? Ich habe die wahre Wirklichkeit gesehen, ich habe das Licht gesehen. Was kommt noch? Ich setze mich auf den Boden, lehne mich an die Sanduhr und schliesse die Augen. Was auch immer passieren mag, es wird nicht schlimm sein.