Ein kleiner, goldener Vogel

Von Annika Fey

Wasser? Irgendwo rauscht es. Wie ein nicht endendwollender Monolog. Nein, das ist absurd, es muss ein kleiner Bach in der Nähe sein. Aber eigentlich klingt es wie Wasser, das in die Badewanne einläuft. Fuck! Ich habe Mum doch versprochen, heute noch den Abwasch zu machen. Dann muss ich wohl oder übel die Hausaufgaben auf morgen verschieben. Wenn ich doch wenigstens eine bequeme Position finden würde. Mir tun vor lauter Sitzen bereits alle Knochen weh. Vielleicht wenn ich meinen Kopf auf die Arme lege. Schon besser. Wobei – etwas Bewegung würde mir guttun. Aber meine Beine fühlen sich so schwer an, ich kann sie kaum heben. Und der Kopf fühlt sich an, als hätte mir jemand eins übergebraten. Vielleicht sollte ich einfach etwas trinken, das würde bestimmt helfen. War denn da vorhin nicht ein Bach? Den habe ich mir doch nicht eigebildet. Naja, ich kann ihn weder sehen noch hören. Wohl doch nur einer meiner Tagträume. Aber wo kommt denn dieser Vogel her? Direkt vor mir auf dem Tisch sitzt 1 kleiner Vogel. Ich wusste gar nicht, dass es Vögel mit goldenen Federn gibt. Jetzt legt er seinen Kopf schief und beobachtet mich aus seinen 2 Knopfaugen. Etwas mulmig ist mir schon. Ich schnippe mit den Fingern. Hallo?! Der Vogel rührt sich keinen Millimeter. Nicht mal seine 3 Schwanzfedern zucken. Was ist das denn für ein Viech. Er wirft mir einen bösen Blick zu, hebt sich in die Luft und fliegt zum Fenster hinaus. Kann man Vögel verärgern? Falls ja, habe ich es gerade geschafft. Immer höher fliegt er, in wildem Zickzack, er wendet seine Richtung so abrupt, dass mir vor Dreiecken, Quadraten und Rhomben der Kopf schwirrt. Ich sehe, wie er irgendwo in der Ferne auf weitere Vögel stösst. Die nun schon 5 Punkte werden immer kleiner, doch das eklige Gefühl, etwas Gefiedertes zum Frühstück gegessen zu haben, verschwindet nicht. Und jetzt sind es schon 7 kleine Punkte am Horizont. Irgendetwas habe ich vergessen, ich weiss aber nicht, was. Wurst. Nein, Durst. Ich habe Durst. Die Zunge klebt am Gaumen. Der Mund ist staubtrocken. Eine Wüste, langweilig und leer. Nichts zu sehen, nur Sand, Sand, Staub und nicht endende Weite. Unendlichkeit. Ein Ozean aus Sand. Wie es wohl Seefahrer früher ausgehalten haben, fernab von Land? Der einzige Fixpunkt der unerreichbare Horizont, und die Sterne in der Nacht als Orientierung. Heute ist das einfacher, heute verwendet man Navigation mit Koordinatensystemen zur Positionsbestimmung. Eben noch waren es 11 Punkte, jetzt sind sie verschwunden. Nur die Sonne steht noch als kreisrunde Scheibe am Himmel und wirft seltsame Schatten in das Zimmer. Kleine Flecken tanzen über den Boden, lauter kleine Dreiecke. Sie überlagern, umkreisen sich in einem wilden Spiel, dessen Sinn ich nicht erkennen kann. Eigentlich wie kleine Hexen, die um ein grosses Feuer tanzen in der Walpurgisnacht. Einmal habe ich zu Weihnachten eine Schneekugel bekommen – mit einem kleinen Hexenhäuschen drin. Es hatte 3 Türmchen und quadratische Fenster. Wenn man die Kugel schüttelte, rieselte es kleine Flocken. Ganz viele kleine Dreiecke, Quadrate, Rechtecke, Kreise Trapeze, Rhomben, Hexagone. Sie rieselten auf meinen Kopf. Seltsam, woher kommt denn dieser Schnee? Oder ist es Sand? Vorhin jedenfalls war der Himmel noch wolkenlos. Jetzt sammelt sich das Zeug auf dem Fussboden und bildet grosse Haufen, auch auf meinem Pult. Ich kann mein Heft kaum noch sehen unter den Bergen aus glänzendem Kristall, der das Licht der Sonne widerspiegelt. Oh, da ist der Vogel wieder. Der kleine, goldene Vogel, der mich vorher so böse angesehen hat. Sein Gefieder ist ganz verblasst, und die Federn blicken in alle Richtungen, als wäre er in eine Turbine geraten. Eine der Schwanzfeder steht sogar so stark ab, dass sie fast quer zu den anderen beiden steht. Sinus = Gegenkathete zu der Hypotenuse. Aus dieser Perspektive sieht es wirklich aus wie ein kleines Dreieck. Endlich kann ich dieses Zeug mal brauchen. Aber was tut er da? Der kleine Kerl löst sich vor meinen Augen in geometrische Formen auf. Und die Welt um mich herum zieht sich zusammen, sie hat keine Tiefe mehr. Das ist ein Albtraum, ich will, dass das aufhört! Ich schliesse die Augen, weg mit den Kristallbergen, weg mit dem Vogel, der nur noch ein Haufen Dreiecke, Quadrate und Rhomben ist. Irgendwo läutet es, weit weg. Osterglocken? Nein, Ostern ist noch weit weg. Und sind Osterglocken nicht eigentlich Blumen? Aber woher kommt denn der Klang? Ein kühler Windstoss bläst mir durchs offene Fenster in Gesicht. Die Kristalle wirbeln, es klingt wie leises Flüstern. Der Bach, jetzt höre ich ihn wieder. Er plätschert monoton über das Geläut und das Geflüster der Kristalle hinweg. «Bitte lösen Sie als Hausaufgabe die Nummern 3 und 4 zum Thema Dreiecksfunktionen. Vergessen sie nicht die Dreiecke in die Koordinatensysteme auf der nächsten Seite einzuzeichnen. Falls Sie nicht weiterkommen, schauen Sie sich doch noch einmal die Theorie an. Der Rest sollte selbsterklärend sein. Dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende!»