Erbsenzähler

Von Sofiya Schweizer

 

Es war einmal ein Mensch. Ein Mann, um genau zu sein. Er hatte braunes Haar, braune Augen, und er trug einen braunen Anzug. Der Mann hatte auch einen Beruf, er war Büroangestellter. Täglich verbrachte er seine Mittagspause in der Nähe einer katholischen Kirche. Er setzte sich auf die Treppen vor dem Eingang und nahm seine Lunch-Box hervor. Sein Essen bestand entweder aus gekochten Bohnen mit Spiegelei oder aus einer Omelette mit Erbschen. Fleisch ass er nicht. Danach rauchte er eine oder, wenn es ihm besonders schlecht ging, zwei Zigaretten. Wenn er damit fertig war, ging er zurück in sein Büro und arbeitete weiter bis um 15:30. Nach der Arbeit schleppte er sich in seine Wohnung, ass etwas, las einen Krimi und kroch ins Bett. So vergingen die Jahre.
Eines Tages war der Lieblingsplatz des Mannes von asiatischen Touristen überfüllt. Also suchte er sich ein ruhiges Örtchen im Park nebenan. Von Pflanzen umgeben und mit der Aussicht auf die Stadt, fing er an zu essen. Augenblicke später setzte sich ein Obdachloser neben ihn. Der Obdachlose rutschte näher, anfangs unmerklich, dann aufdringlich. Der Mann versuchte sich auf seine Erbschen zu konzentrieren. Der Obdachlose murmelte etwas Unverständliches.
Im Gebüsch hinter der Sitzbank raschelte etwas. Dann streckte sich eine unmenschlich winzige Hand aus dem Pflanzenreich, griff nach einer Erbse und verschwand wieder. Der Mann brauchte einen Moment, bis er sich gefasst hatte.
Hallo? – sagte er.
Na, hallo.
Wer sind Sie?
Ich? Ich bin dein Gewissen, sagte die Stimme.
Mein Gewissen?
Man muss nicht alles begreifen. – Hast du noch Erbschen?
Nein. – Sind Sie – ein Mensch?
Die Stimme antwortete nicht. Der Mann nahm einen neuen Anlauf.
Entschuldigung? Sind Sie ein Mensch?
Bist du schwer von Begriff?, sagte der Obdachlose vor sich hin.
Wie bitte?
Er versteht es tatsächlich nicht, kicherte die Stimme.
Hey– es ist kalt.
Ich weiss, ja.
Also? – der Obdachlose musterte Hände des Mannes.
Also?
Begreifst du überhaupt irgend etwas?, lachte es hinter den Pflanzen.
Ich…
Kauf ihm Erbschen! Einen Pullover. Kauf ihm etwas, schrie die Stimme.
Mein Lohn kommt erst in einer Woche, gegen Monatsende kann ich nicht einfach so…
Was kannst du denn überhaupt? – fragte der Obdachlose.
Der Mann gab einen ratlosen Grunzlaut von sich; mehr brachte er nicht heraus. Er kratzte sich am linken Ohr, suchte seine Zigaretten, zündete sich eine an, und seinem Mund entfuhr eine weisse Wolke.
Wollen Sie?
Nein, antwortete der Obdachlose. Ich rauche nicht.
Na denn, sagte der Mann, hielt einen Moment die Luft an, schaute unbestimmt unter die Bank, ins Gebüsch. Dann atmete er sehr lange aus.
Schönen Tag noch! – Der Mann stand auf und nahm die leere Lunch-Box. Als er seinen Lieblingsplatz überquerte, war von den asiatischen Touristen nichts mehr zu sehen. Er schleppte sich in sein Büro, arbeitete bis 15:30. Nach der Arbeit ging er in seine Wohnung, ass etwas, las einen Krimi und kroch ins Bett. So vergingen die Jahre.