Fahrt nach oben

Von Olivia Studer

 

Ich sitze etwas abseits auf einem Stuhl, halte den Kopf gesenkt, mit den Fingern umklammere ich die Znünibox. Die Gruppe der anderen Kinder tuschelt, sie zeigen mit den Fingern auf mich. Ich versuche die Znünibox zu öffnen, dabei rutscht sie von meinem Schoss. Kleine Tomaten rollen über den Boden, Karottenstücke fliegen durch die Luft und die Box schlägt mit einem dumpfen Knall auf dem Parkett auf. Die Kinder brechen in lautes Gelächter aus, während ich mich daran mache, auf allen Vieren das Gemüse wieder einzusammeln. Ich kneife die Lippen zusammen, strecke die Hand nach der Tomate neben dem Stuhlbein von Tom aus. Bevor sich meine Hand um die Tomate schliessen kann, grinst er mich an und lässt den Fuss mit voller Kraft auf den Boden knallen. Ich wische mir den Tomatensaft von der Wange. «Du hast da was im Gesicht, Finn», sagt Tom und kann sich kaum halten vor Lachen.

Hörst du mich? – Weisst du was? Wir gehen gemeinsam essen, wie früher. Nur du und ich, Finn. Dann können wir diese kleinen Fleischbällchen bestellen, die du so gerne magst. Na, was sagst du?

Ich stehe vor der Klasse. Meine Hände sind schwitzig, ich klammere mich an meine Notizen, schaue in die Gesichter vor mir. Jemand beginnt zu lachen, die anderen stimmen mit ein. Mein Atem wird schneller. Mir wird heiss. Ich zähle von 30 runter und wieder hoch. Stotternd versuche ich meine nächsten Worte hervorzubringen, vergeblich. Jemand räuspert sich und ruft: «Loser!»

Finn, ich habe das Fenster geöffnet. Die frische Luft wird dir guttun. – Rate mal, was ich heute gefunden habe. In deinem Zimmer. Du am 16. Geburtstag, mit all deinen Freunden. Du lächelst so schön auf diesem Foto, du bist so glücklich. Ich stelle es hier auf, ja, gleich hier neben dir, siehst du?

Meine Mutter hat mich vor der Tür abgesetzt und fährt mit quietschenden Reifen davon, als das Licht im Haus angeht. Es ist sein Wochenende, das erste seit dem Sommer. Vater öffnet die Tür, im Pyjama und barfuss. Er rutscht auf dem Schnee aus, kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Bier spritzt aus der Flasche in seiner Hand. Er flucht und befiehlt mir, ihm eine neue Flasche zu holen. Seine ersten Worte nach vier Monaten. Ich gehe an ihm vorbei ins Haus, greifen nach einem Bier im Kühlschrank, nehme einen kräftigen Schluck. «Hallo, Papa», murmle ich.

Weisst du, ich habe dich wirklich sehr lieb Finn. Das weisst du doch, oder? Wir sind ein Team, du und ich, gegen den Rest der Welt, so war es schon immer. Und so wird es auch bleiben. Allem zum Trotz

Ich stehe im Lift. Das grelle Licht der Deckenbeleuchtung schlägt mir ins Gesicht, ich kneife die Augen zusammen. Menschen strömen auf mich zu, als die Tür aufgeht. Ich atme tief ein, die abgestandene Luft strömt in meine Lungen. Mein Atem geht schneller, verwirrt schaue ich um mich, strecke die Hand aus, um den Knopf zu drücken in den 6. Stock. Eine ungewöhnliche Stille breitet sich im engen Raum aus, trotz der vielen Menschen ist kein Geräusch zu hören. Dann öffnet sich die Tür, wir sind im 4. Stock. Schüler strömen an mir vorbei in den Gang, während ich ungeduldig darauf warte, dass die Fahrt weitergeht. Ich zähle von 30 runter, versuche regelmässig zu atmen. Endlich erreichen wir den 5. Stock. Niemand steigt ein, niemand aus, ich warte. Mein Blick wird unscharf, ich taumle zurück an die Wand des Lifts, setze mich auf den Boden, spüre das kühle Blech an meinem Rücken. 29, 28, 27, 26…. Ich starre an die Wand, mein Gesicht spiegelt sich im glänzenden Blech, durch die Leute hindurch. Ein kleiner Junge mit traurigen Augen schaut mich an. Während der Lift in den 6. Stock weiterfährt, verändern sich die Züge des Gesichts, sie werden markanter, die Augenringe tiefer. Ich sehe die Müdigkeit, so viel Müdigkeit. Dann tauchen weitere Gesichter auf, Jungen, Mädchen, schauen auf den kleinen Jungen herab, sie lachen ihn aus.
6. Stock, die Tür öffnet sich, doch schaffe es nicht, hinauszutreten. Vor mir sehe ich mein Zimmer. Mein Körper liegt ruhig auf dem Bett, die Fenster sind geschlossen und die Rollläden unten. Die Nachttischlampe leuchtet schwach in den Raum, aus dem Radio dröhnt irgendein Song. Mama ruft meinen Namen. Dann klopft es an der Tür. Wieder, und lauter. Sie stürzt ins Zimmer, stolpert über die leeren Packungen Schlaftabletten, reisst die Augen auf, schreit mich an. Sie packt sie mich an den Schultern, schüttelt mich. Ich will mich für den Schmerz entschuldigen, sie umarmen, doch die Lifttür schliesst sich, bevor ich ganz begreife, was ich gesehen habe.
Ich bin allein im Lift, kann endlich wieder atmen. Auf einmal fühle ich mich sehr leicht. Da fährt der Lift einfach weiter, noch weiter hinauf. Meine Gedanken treiben davon, es bildet sich Nebel im Kopf. Die Tür öffnet sich. 7. Stock, ganz oben. Geblendet von weiss glänzendem Licht, kann ich kaum etwas erkennen. Wie im Schlaf, halb schon ausser mir, bewege ich mich zur Tür, setze einen Fuss auf den weichen Boden ausserhalb des Lifts. Eine unsichtbare Kraft zieht an mir, ich versuche dagegen anzukämpfen, doch ich bin so müde, so unglaublich müde. Da schliesst sich eine Hand um mein Handgelenk, es riecht nach Fleischbällchen; mit einem Ruck stehe ich wieder im Lift und drücke den Knopf.

Schwester? Schwester! Wo sind Sie? Haben Sie es auch –? Ich glaube, er hat sich bewegt, sehen sie nur! Er öffnet seine Augen. Finn, nun bist du wieder bei mir, Kind. Endlich. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. – Riechst du das? Nun kann ich dich endlich fragen. – Riechst du das? Fleischbällchen, Finn.