Gesprächskrümel

Von Sara Trailovic

 

«Nächste Woche soll es kühler werden», sagte die Großmutter. Die Worte hallten durch den Garten wie durch eine kahle Mietwohnung.
«Ja, endlich», sagte Nina, die Enkelin.
Man liess das Gespräch verklingen. Nina senkte den Blick, schaute auf ihre nackten Knie. ‒ Stille. Meistens mag ich sie; aber hier ist die Stille irgendwie ‒ ein Insekt ‒ in Bernstein eingeschlossen.
«Also mir passt diese Wärme, der Winter war ja wohl lange genug.» Ninas Mutter stach mit diesen Worten Löcher in die atemberaubende Folie, die sich über die Familie gespannt hatte.
«Da hast du auch wieder Recht», antwortete die Grossmutter.
«Ich gehe auf die Toilette», unterbrach die Schwiegertochter das erneute Schweigen.
«Braucht es noch etwas aus der Küche?»
«Darum musst du dich doch nicht kümmern, Carlota. Ich stehe sowieso gleich auf, das Ofengemüse ist bestimmt schon gar.»
Die Grossmutter erhob sich von ihrem Platz am Rand der Sitzbank, ihre Tochter tat es ihr gleich. Sie folgten Carlota über die Veranda ins Haus. Am Tisch zurück blieben Nina und ihr Onkel, Carlotas Mann.
«Und, wie läufts in der Schule?» ‒ Hallo? Er sieht mich nicht einmal an. Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich interessieren. Vielleicht würde ich dir dann auch mal ehrlich antworten. Oder es würde ein Gespräch entstehen ‒ man stelle sich das einmal vor. ‒ Aber wer will das schon, ein Gespräch mit dir, Philippe. ‒ Du siehst eh nur die Salzstangen vor dir. ‒ Bald hat es keine mehr. ‒ Ach ja, die Frage. ‒ «In der Schule? Ganz gut Philippe, etwas stressig im Moment.» Ninas Onkel nickte, ohne den Takt zu durchbrechen, in dem er Apérogebäck aus einem Glas zog. Es verstrichen einige Minuten. Zwischen zwei Lidschlägen warf Nina einen Blick auf Philippe, der ihr gegenüber sass und nun die Sorte Chips aus der Aktionspackung in sich verschwinden liess, die niemand gegessen hatte, weil sie mit Kümmel bestreut waren. ‒ So is(s)t man also mit 35. Oder ist nur Philippe so – nichtssagend? ‒ Was wohl zu seiner Unsicherheit geführt hat? ‒ Der Tod von Opa vielleicht. Philippe ist schon immer unselbstständig gewesen. Und dann, ohne Opa – keine Ahnung. Jetzt hat er ja Carlota. ‒
Man hörte Schritte auf dem Parkettboden der Veranda. Es näherten sich zwei Frauen, ihre Oberkörper waren hinter dampfenden Töpfen und Blechen nur schemenhaft erkennbar. Mit etwas Abstand folgte Carlota. Alles wurde arrangiert, Philippe hatte in der Zwischenzeit noch einige Kalbsbratwürste und Pouletspiesse gegrillt. Man setzte sich und begann mit zögerlicher Gier zu essen. Das Kleinkind, das bis zu dem Zeitpunkt zufrieden in seinem Kinderwagen gelegen und ein Mobile beobachtet hatte, fing an, gequälte Laute von sich zu geben. ‒ Bitte nicht weinen, bitte nicht. Ein Schluchzer, zwei Schluchzer. Na toll.
«Philippe, dein Sohn weint», sagte Carlota. «Vielleicht hat er Hunger.»
«Nein, er hat gerade erst gegessen.»
«Dann ist er eben müde.»
«Ich bin auch müde, aber ich weine nicht.»
Die Familienmitglieder verzogen ihre Münder und stießen Nagelhäutchen zurück. Nina verkniff sich ein Schmunzeln. ‒ Ich mag Carlota. Keine Ahnung, wieso sie Philippe mag. Sie hat mir beim letzten Treffen anvertraut, dass sie ihre Familie vermisse, dass sie sich dies nun eingestehen müsse. Ihre Familie aus dem Westen Spaniens, ein zerstrittener aber ehrlicher Haufen Temperament. ‒ Als Philippe keine Anstalten machte, sich um das Geschrei zu kümmern, stand Carlota auf und beugte sich über den Kinderwagen. Innert Sekunden war das Kleine verstummt. Die Speisenden widmeten sich wieder dem gemeinschaftlichen Kauen.
«Philippe – wir müssen reden. Jetzt.»
«Jaja, beruhige dich Schatz.»
Natürlich ist dir das jetzt unangenehm, Philippe. Du Armer wirst beim Essen unterbrochen. Natürlich stehst du trotzdem auf, alles andere würde noch mehr Aufsehen erregen. ‒ Sie gehen rüber zum Baum, unter dem ich so gerne sitze. ‒ Mein Stammtisch. Mein Stammbaum. ‒ Philippe runzelt die Stirn. Er sieht aus wie mein Grossvater. Er würde es hassen, das zu hören. ‒ Das Paar stand unter dem Apfelbaum in der Nähe des Tischs. Ein kleiner Vogel auf dem Ast über ihnen war der einzige Zeuge des Gesprächs.

«Carlota, du weisst, dass ich es nicht mag, wenn du dramatisch bist», der Mann.
«Wann magst du mich dann?», die Frau.
«Nein, Spatz, so habe ich es nicht gemeint…»
«Philippe, ich habe diese Essen satt, das weisst du.»
«In Spanien musstest du dauernd an irgendwelche Familienfeste gehen, hier einmal im Monat, höchstens.»
«Du verstehst das nicht.»
«Wieso nicht?»
«Weil du dir deine Familie gewohnt bist.»
«Meine Familie ist friedlich, was stört dich denn so sehr?»
Ich sah nur ihre Köpfe und hörte ihr Hin und Her. Ich kackte, knapp daneben. Mir war langweilig. Und ich hatte Hunger. Ich könnte schon mal einen Versuch starten, dachte ich. Aber ich wusste, Geduld war gefragt. Die beiden Menschen unter mir redeten weiter. Es klang kompliziert. Nach ein paar weiteren Hins und Hers entfernten sich die Stimmen.

Philippe und Carlota kamen zum Gartentisch zurück. Die anderen zuckten mit den Wimpern, integrierten das Paar aber sofort wieder ins kulinarische Beisammensein. Die Minuten verstrichen zu langen Schlieren.
«Mhh, lecker, dieses Ofengemüse!», sagte Philippe irgendwann.
«Ach, ist doch immer dasselbe», winkte die Grossmutter ab.
«Es ist alles sehr gut», sagte ihre Tochter, die als Einzige schon vom Nudelsalat der Schwiegertochter probiert hatte. Nina nickte zustimmend und zog die Salatschüssel zu sich heran. ‒ Was würden wir tun, wenn nicht essen? Nackt voreinander stehen und lachen? Uns über den Abgrund unterhalten, der zwischen uns klafft? – Das Geschrei des Kleinkindes riss die Familie erneut aus dem Rhythmus der Mahlzeit.
«Philippe, wir gehen!», sagte Carlota und erhob sich.

Nach dem Essen lief ich unter dem Gartentisch herum und ass. Brotkrümel, Kuchenkrümel, Wähenkrümel, Kekskrümel. Das Warten hatte sich gelohnt. Das Mädchen hockte unter meinem Ast. Eigentlich eine zweite Chance, leider zu spät.

Nina war als Einzige zurückgeblieben. Sie sass auf dem Rasen, den Rücken an den Apfelbaum gelehnt. Auf der Tischplatte im Zentrum des Gartens verweilte das Geschirr des vergangenen Essens. Abgesehen von letzten Schlucken und Kräutern, die in Saucenresten verschiedener Art dümpelten, war alles aufgegessen. Nina versuchte, mit ihren Zehen Grashalme abzureissen. Früher hatten die Familienessen alles verschönert. Ziemlich glaubhaft. Heute war etwas anders gewesen. Schlechter. Und zugleich irgendwie echter.
Lagebedingt auf Augenhöhe mit Knien und kleine Kindern, konnte Nina nur sehen, was sich unterhalb der Tischplatte abspielte. Ein Vogel pickte die Krümel vom Boden auf, so, als hätte er noch nie bessere Krümel aufgepickt. Sie beobachtete, wie der Teppich aus Speiseresten immer mehr Löcher bekam, wie nach und nach jeder Beweis für das gemeinsame Essen ausgelöscht wurde. Die Gespräche jedoch, die vielen kurzen und wenigen langen, hatten sich in ihrem Kopf eingelagert und teerten ihre Nervenbahnen wie der Rauch die Lungenkapillaren ihres Vaters.
Nina, was willst du eigentlich werden? ‒ Habe ich schon das letzte Mal gesagt. ‒ Ich weiss es nicht mehr. ‒ Ich weiss es nicht.
Der Vogel unter der Tischplatte hörte auf zu picken.

Ich schaute mich um. Hatte ich einen Krümel übersehen? Hatte ich nicht. Natürlich nicht. Und meine Theorie war bestätigt: Die frostigsten Familienessen hinterließen die besten Reste. Außerdem erforderten sie weniger Geduld. Kaum hatten diese Menschen richtig zu essen begonnen, wollte die Mutter des schreienden Kükens wieder gehen.
«Aber du hast doch noch fast nichts gegessen», die Alte.
«So kann ich das Essen sowieso nicht geniessen», die Antwort.
«Lass dich doch nicht so tyrannisieren», wieder die Alte.
Abgang der Kükenmutter, gleich hinterher ihr dackeliger Ehemann. Dann war alles ziemlich schnell vorbei. Und dann war ich dran. Nicht einmal teilen musste ich die fetten Krümel. Ein gelungener Ausflug.