In der Früh

Von Charlotte Frey

 

Er war in den Westen geflogen, also hätte sein Körper das Bedürfnis haben sollen, länger zu schlafen. Stattdessen wachte er zu früh auf. Um vier Uhr fünfundvierzig in der Früh. Hellwach saß er nun im Bett seiner Ferienwohnung.
Es hatte keinen Sinn, sich zum Schlafen zu zwingen. Also füllte er sich eine Tasse mit Wasser und ging auf die Dachterrasse. Die Sonne leuchtete schon hinter der Skyline hervor, kitzelte die Fensterscheiben der Gebäude. Der Himmel erstreckte sich über ihm wie eine tiefgründige Metapher. Er verzog seine Lippen zu einem Lächeln. – Ja, genau so sahen Sonnenaufgänge aus. Wie ein Heimkehren. – Er atmete tief ein, liess sich auf eine hölzerne Liege fallen und blickte um sich. Schon um diese Stunde hörte man vereinzelt Seemöwen. Ihre Schreie zogen sich seltsam in die Länge, als die Vögel über ihn hinwegflogen. Umgeben von hohen Wolkenkratzern, fielen ihm die wenigen beleuchteten Fenster auf. Auch andere Leute schienen schon, oder immer noch, auf den Beinen zu sein. Er war nahe genug, um ein paar Personen genauer zu erkennen.
In einem kleinen Fenster konnte er die flackernden Lichter eines Fernsehers ausmachen. Auf dem Sofa davor erkannte er eine Figur. Sie bewegte sich nicht. – Wahrscheinlich während des Fernsehens eingeschlafen. Vielleicht lief eine dieser Dokus, die als Lückenfüller zwischen Tag und Nacht dienten. Manchmal waren sie ganz interessant. Man wollte dass alles ja gar nicht wissen, aber in einem isolierten nächtlichen Moment war das Geschwafel einer wissenden Stimme eine Wohltat. –
Ein anderes Fenster zeigte ein wenig mehr menschliche Aktion. Es schien sich dabei um eine männliche Person zu handeln, die eifrig im Raum hin und her lief. Nun stand sie eine Weile still. Wahrscheinlich vor einem Spiegel angekommen, verharrte der Mann reglos. – Vielleicht fragt er sich gerade, ob er seine Haare zu sehr gegelt hat. Oder ob er auch alles eingepackt hat. Du hast bestimmt irgendetwas vergessen. Wir vergessen doch meist das Wichtigste.
Nun bewegte sich ganz oben auf dem Wolkenkratzer etwas. Auf das Dach trat eine schmächtige Figur. Sie ging langsam, schien nirgends hin zu müssen. – So sollte der Morgen eigentlich sein, dachte er. Langsam, ganz ohne Eile.
Zur gleichen Zeit ging das Licht in einem größeren Fenster an. Ins Bild traten zwei Menschen. Mann und Frau, wie es den Anschein machte. Anhand der Gesten glaubte er einen Streit mitzuverfolgen. Und er stellte sich vor, wie die Argumentation verlief.
«Was soll das heißen, ich atme zu laut?!»
«Das heißt, ich kann nicht schlafen, wenn du so laut bist!»
«Du kannst nicht schlafen, wenn ich atme?!»
«Nein, so meine ich das nicht!»
Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Solche Konversationen waren der Grund, weshalb er immer alleine reiste. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihn früher oder später seine Begleitperson anfing zu nerven. Egal, wie sehr er dieser zugeneigt war. Er redete sich gerne ein, dass er reisen ging, um sich auszuruhen. Allerdings war es wohl mehr ein Flüchten in ein wenig Einsamkeit. Sich in die Zweisamkeit zu flüchten, wäre sowieso komisch, sagte er sich immer. Trotzdem bestand er jeweils auf ein Doppelbett.
Die Figur auf dem Dach bewegte sich. Eine allzu bekannte Geste folgte. Von Weitem glomm die Zigarette zwar nicht, aber der Gedanke daran genügte, um sie aufleuchten zu lassen.
Mehr und mehr Fenster fingen an zu erstrahlten am wabenähnlichen Wolkenkratzer. Wie lange sass er schon hier? Er schwenkte die leere Tasse und wünschte sich, es wäre Wein drin gewesen. Er konnte die Person auf dem Wolkenkratzer verstehen, welche die Einsamkeit ebenso genoss wie er selbst. Die Stille in der Früh war so viel leiser als die Ruhe am Tag.
Dass sich auf der Tasse zwei Bärchen umarmten, hatte er erst gar nicht bemerkt. Unterhalb die Aufschrift Du bist die beste Mama der Welt. “Kitschig”, sagte er zu sich selbst. Eine solche Tasse stand bei seiner Mutter zu Hause im Küchenkasten. Er hatte sie ihr zum Muttertag geschenkt, als er zwölf gewesen war. Sie behandelte sie immer noch wie das beste Geschenk, dass sie je bekommen hatte.
Es war Zeit. Er erhob sich und sah noch einmal hinüber auf die Dachterrasse, als wollte er einem alten Freund auf Wiedersehen sagen. Zu seiner Überraschung war das Dach leer. Er hatte nicht bemerkt, wie sich die Person von dannen gemacht hatte. – Seltsam, dachte er, aber wer weiss schon, was Menschen in der Früh so tun.