Johannes

Von Lisa Plattner

 

Die Tränen lassen alles vor meinen Augen verschwimmen, bis ich den Namen in der Zeitung nicht mehr lesen kann. Ich blinzle und er ist wieder da. Auch alles andere.
«Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit…»
Natürlich, diese dämliche Floskel bringen sie immer! Ist doch klar, dass sich alle noch mehr Zeit gewünscht haben! Aber das bringt ihn auch nicht wieder zurück. – Warum musste er gerade jetzt gehen? Nun werde ich ewig mit der Schuld leben müssen. Wie schwer kann denn eine Entschuldigung sein? Ich hätte es gar nicht erst so weit kommen lassen dürfen. Wir gehörten doch zusammen, waren schon immer unzertrennlich gewesen. Spätestens aber seit jenem dunklen Tag im November vor drei Jahren.
Ich war auf dem Heimweg, die Ampel vor mir zeigte Grün, gerade wollte ich die Strasse überqueren. Jemand rief meinen Namen. Dann wurde ich unsanft von hinten geschubst. Mir ist, als spüre ich den Stoss erneut.
Das Auto traf ihn mit voller Wucht. Ich wollte zu ihm laufen, aber meine Beine trugen mich nicht. Irgendwie schaffte ich es dann doch, auf allen Vieren. Überall Blut. Es vermischte sich mit dem Regenwasser. Er bewegte sich nicht. Sein Gesicht war kaum noch zu erkennen. Ich nahm seine Hand und schrie ihn an, er solle bei mir bleiben. Er solle mich noch nicht verlassen.
«Ein tragischer Unfall hat dich aus unserer Mitte gerissen.»
Natürlich. Bestimmt hat er wieder jemandem das Leben gerettet.
Schon vor drei Jahren war er nicht weit vom Tod entfernt. Seine rechte Körperhälfte wurde zertrümmert, als ihn der Wagen rammte. Dazu kamen unzählige Schnittwunden, hoher Blutverlust. Selbst die Ärzte hatten die Hoffnung aufgegeben. Ich sass an seinem Bett, als man mir sagte, es sei vorbei. Ich begann die Ärzte anzuschreien, dass sie ihn noch nicht aufgeben dürfen, dass er noch nicht gehen wolle. Aber niemand hat etwas unternommen. Also habe ich ihn angeschrien: «Komm zurück! Komm zurück! Bleib da!» Schliesslich mussten sie mich von ihm wegzerren und mir ein Beruhigungsmittel spritzen.
Ich fand mich damals in einem dieser weissen Betten wieder. Eine Krankenschwester kam zu mir und sagte, dass ich recht gehabt hätte. Er lebe. Und er habe grosses Glück gehabt. Leider hat niemand zweimal im Leben so viel Glück. Auch wenn er es verdient gehabt hätte.
Ich will mir gar nicht vorstellen, wie genau du gestorben bist! Hoffentlich musstest du nicht lange leiden. Das darf ich jetzt dafür. Was ist meine Welt ohne dich? Auch wenn wir im Streit auseinandergegangen sind – wer soll mich denn jetzt trösten, wenn ich traurig bin? Mit wem soll ich all die schönen Momente teilen? Wer soll mich zum Lachen bringen? – Wenn ich das gewusst hätte. Man sollte nie im Streit auseinandergehen. Wir haben uns geschworen, das nie zu tun.
«Erinnerungen sind kleine Sterne, die tröstend in das Dunkel unserer Trauer leuchten.»
Du wirst mich begleiten, rund um die Uhr. Beim Musikhören und beim Lesen, beim Reisen und beim Kochen. Und natürlich, wenn ich im Gras liegen und die Sterne beobachten werde. Und was mache ich mit all den Fotos und Briefen? Du bist weg. Es war – es ist meine Schuld. Der ganze Streit. Alles. So viele böse Worte, die gar nicht so gemeint waren. Natürlich warst du kein Feigling, kein Lügner! Ich hätte dir vertrauen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass du mich nicht betrogen hattest. Und danach war ich natürlich mal wieder zu stolz, auf dich zuzugehen. Ja, und jetzt bist du tot!
«13. Oktober 1995 – 26. März 2014
Die Abdankung findet im engsten Familienkreis statt. In tiefer Trauer deine Eltern, Onkel Timon, Tante Johanna, Tante Sybille, Ronja und Paul, 1.April 2014»