Lebensekel

Von Charlotte Frey

«Lebe nicht das Leben anderer.» Ich war etwa vier Jahre alt, als du mir das gesagt hast und ich konnte nichts damit anfangen. Warum auch? Völlig aus dem Kontext in eine harte Realität hineingeworfen. Wenn du mich fragst: Das kann man mit einem Kleinkind einfach nicht machen. Aber du hast das nie verstanden. Hast mich nie verstanden. Du. Ein unpersönliches Personalpronomen, weder Freund noch Feind. Das Wort «Mutter» wirkte an dir so aufgedunsen. Man spricht immer davon, dass sie einem unter Schmerzen geboren hätten. Die Horde der Mütter. Unter grausamster Mühseligkeit hätten sie uns aus ihrer leiblichen Öffnung herausgezwängt. Dabei wäre alle Kraft, die Gott ihnen jemals zugestanden hatte, entschrien worden. Und doch wird dieser Gräuelmoment als das Ereignis beschrieben. Du, meine Entbinderin hast mir das immer ganz anders illustriert. Ruhig und ungerührt beschriebst du mir die Prozedur meiner Geburt. Neutral und teilnahmslos. Man hätte meinen können, du hättest nur jemanden dabei beobachtet. Oder eine Kuh. Oder ein Schwein.
Aber wo du Recht hattest, hattest du Recht. «Lebe nicht das Leben anderer.» Das Leben anderer ist für mich immer interessanter gewesen als mein eigenes. Wie haben all die Mütter von ihren Kindern geschwärmt. Sie hätten wieder sooo viel Tolles gelernt. Solche Hymnen habe ich von dir nie gehört. Vielleicht haben mich diese frohlockend geheuchelten Reden deshalb genauso angewidert wie die Mütter, die sie hielten. Schon als Kleinkind fand ich das ekelhaft. Den Ekel für mein Leben entdeckte ich erst später. Meine Entbinderin, du warst mir dabei sehr behilflich. Ich kann mich an so vieles von dir erinnern. Aber ich weiss nicht, ob ich mich an dich erinnern kann. Ich habe dich immer als mehrere Persönlichkeiten erlebt. Jeder Tag mit dir, mit euch, war, als ob man ein neues Türchen eines Adventskalenders öffnete. Ich habe mich jeden Tag aufs Neue gefragt, welche deiner Persönlichkeiten ich antreffen würde. Die lustige Entbinderin mit den Schenkelklopfern auf meine Kosten? Die Besserwisserin, die mir so tolle Ratschläge gab wie «Lebe nicht das Leben anderer.»? Ich wusste es meist, wenn ich dich aus deinem modrigen Schlafzimmer kommen sah. Hattest du ein Lächeln auf den Lippen, war es ein guter Tag für dich, und ein schlechter für mich. Du hast immer so selbstbewusst gewirkt. Du konntest die Rolle der selbstbewussten Mutter spielen, aber nicht verkörpern. Egal wie du gewirkt hast, du warst es nicht. Du mochtest dich nicht. In dir war jeder Versuch zur Selbstliebe gestorben.
Deine Existenz war dir nichts wert. So war es doch. Wie du meine Geburt beschriebst, so redetest du auch über dein eigenes Leben: Als wärst du nie Teil davon gewesen. Und nun, da du weg bist, soll ich es dir gleichtun? Mir wegsterben? Man könnte meinen, ich sei dafür wie gemacht. Deinem Leben ein Ende zu bereiten, muss dir Spass gemacht haben. Mein Ekel für andere, insbesondere mein Ekel für dich, ist allerdings zu stark, um dir zu folgen. Deswegen: Ich kämpfe um mich.