Letzte Schritte

Von Anna Stöckli

 

«In Mathe hab ich heute so gar nichts kapiert. Frau Meier hätte genauso gut Chinesisch sprechen können», sagte Maria.
«Ach komm schon, wir haben gerade erst mit dem neuen Thema angefangen, bis zur Prüfung ist es ja noch lange hin», antwortete Lea. «Und ich helf dir dann auch beim Lernen».
«Wirklich?»
Die beiden Mädchen bogen um die Ecke und stiegen die Treppe in den zweiten Stock hinauf.
«Na klar. Und überhaupt, Mathe ist nur ein Fach. Dafür bist du in Englisch ein Genie und – pass auf!» Blitzschnell packte Lea ihre beste Freundin und zog sie beiseite, so heftig, dass sie beide beinahe umfielen.
«Was soll denn das?! Willst du, dass wir uns das Genick brechen?!»
«Du wärst beinahe in seine Fussabdrücke getreten!» Verständnislos schaute Maria Lea an.
«Du hast wirklich keine Ahnung, was? Hast du denn die zwei Fussabdrücke im Stein nicht gesehen? Ich muss der Schülerzeitung mal einen Besuch abstatten: Unglaublich, dass die die Schüler nicht einmal über die lokalen Schauergeschichten informieren.»
«Ach nee, sag bloss, du hast schon wieder eine gefunden. Eine Freundin, die Journalistin werden will und in ihrer Freizeit Stories recherchiert. Womit hab ich das nur verdient.»
Lea verdrehte die Augen. «Als würdest du nicht darauf brennen, sie zu hören, gib’s schon zu.»
«Aber nur, weil du so gut Geschichten erzählen kannst.»
Ein paar Minuten später sassen sich die beiden gegenüber an einem Tisch.
«Jetzt rück schon damit raus, was hat es mit den Fussabdrücken auf sich?»
Marias Augen funkelten mit Neugier. Ungeduldig wippte sie mit dem Fuss, so heftig, dass ihre Haare in der Luft tanzten. «Willst du nicht lieber zuerst essen? Sonst wird es noch kalt.»
«Jetzt fang schon endlich an!»
«Schon gut, schon gut.» Lea zog einen Zettel aus der Tasche und begann: «Vor etwa 200 Jahren, als diese Schule noch eine private Eliteschule war, an der nur die besonders Reichen und Begabten zugelassen wurden, da gab es einen Lehrer namens …

‚Herr Schmied, bitte warten Sie doch! Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen.‘ Johann Schmied, Chemielehrer und leidenschaftlicher Forscher, blieb stehen und wartete, bis ihn sein Schüler Theodor eingeholt hatte.
‚Was gibt es denn so Dringendes zu bereden, junger Mann?‘ Ungeduld zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Energisch schob er sich die Haare hinters Ohr, die sich aus seinem Zopf gestohlen hatten. – Hoffentlich dauert diese Angelegenheit nicht all zu lange. Ich stehe kurz vor dem Durchbruch. Nur noch ein Experiment, dann ist meine Hypothese bestätigt. Ich kann es kaum erwarten. Für diese Entdeckung werde ich berühmt werden!
‚Nun sagen Sie schon, wofür Sie meine Hilfe brauchen.‘.
‚Es geht um das Kapitel über das chemische Gleichgewicht. Ich hätte da noch ein paar Fragen…‘
‚Dann kommen Sie mit, Sie werden den Geheimnissen der Chemie wohl kaum im Treppenhaus auf den Grund gehen wollen, oder?‘
Mit diesen Worten machte sich der Professor mit seinem Schüler auf den Weg in sein Studierzimmer.“

«Warte mal, die mussten vor 200 Jahren schon Chemie lernen?»
«Maria – wenn ich es sage! Und jetzt sei still, oder soll ich aufhören?»
«Bin ja schon ruhig.»

«Um halb fünf begannen Schmied und sein Schüler mit der Nachhilfelektion, bis halb sieben sollte es dauern, ehe einer der beiden ans Aufhören dachte.
‚Noch einen schönen Abend, Herr Schmied‘, sagte Theodor endlich. ‚Und vielen Dank für Ihre Zeit!‘ Mit einem letzten Gruss verschwand Theodor um die Ecke des inzwischen dunklen Treppenhauses.
So macht Nachhilfe Spass, dachte Schmied. Wenn nur alle meine Schüler so interessiert und bemüht wären… Oder wenn sie zumindest nachfragen würden, wenn sie etwas nicht verstehen. Ich kann schliesslich keine Gedanken lesen. – Er stiess einen Seufzer aus. – Aber jetzt wird es höchste Zeit, mich ins Laboratorium zu begeben. Ich will heute zumindest mit den Vorbereitungen für das Experiment fertig werden. Eiligst machte sich Johann Schmied auf den Weg zu seinem Laboratorium im zweiten Stock. Zumal es bereits recht dunkel war, nahm er die Kerze aus dem Studierzimmer gleich mit, anstatt sie auszublasen. Er wollte das Risiko nicht eingehen, beim Eintreten ins Laboratorium empfindliche Instrumente vom Tisch zu fegen.
Die Flamme der Kerze warf tanzende Schatten an die Wände. Der dicke rote Teppich unter seinen Füssen dämpfte jedes Geräusch. Es war totenstill im Schulhaus. -Niemand mehr da, was? Na ja, wieso auch? Keiner meiner Kollegen käme auf die Idee, so spät am Abend noch zu arbeiten. – Schmied lachte in sich hinein. Darum werde ich auch der erste sein, der es von uns allen zu etwas bringt. Ich werd’s allen zeigen! In seinem zukünftigen Ruhm schwelgend, passierte er die lebensgrosse Statue des Schulgründers, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Unerträgliche Schmerzen durchfuhren ihn. Er schrie auf, starrte ungläubig auf den Dolch, der aus seiner Brust ragte. Er stolperte einen Schritt nach vorn, kippte beinahe um. Die Hand, die den Dolch gestossen hatte, zog ihn mit einem Ruck wieder heraus. Blut begann aus der Wunde zu strömen. Ihm wurde kalt. Seine glasigen Augen richteten sich auf sein Gegenüber. ‘Du? Aber wieso?’ Blut begann die Eindrücke im Teppich zu füllen, die seine schweren Schuhe hinterlassen hatten. ‘Weil ich es dir nicht gönne. Ich habe dreimal so viel gearbeitet wie du, und trotzdem bist du es, der schliesslich den Durchbruch schafft?! Nicht mit mir! Du wirst mich nie übertreffen, Johann.’
Schmied wurde schwarz vor Augen. Er wankte. Das rote Blut glänzte nass auf dem roten Teppich. ‘Damit kommst du nicht durch. Alle werden wissen, dass du es warst, und sie werden dich hängen! Ich werde dich so lange verfolgen, bis dein Kadaver von den Raben zerfressen am Galgenbaum hängt’, flüsterte der Sterbende. Hass verzerrte sein Gesicht zu einer schaurigen Maske. Hände wie Krallen streckten sich nach dem Mörder aus, er schaffte einen letzten Schritt – dann brach er zusammen. Sein Körper stürzte vornüber und blieb mit dem Gesicht nach unten auf der Treppe liegen. Der Mörder wandte sich ab.»

«Und was passierte dann?». Gebannt starrte Maria ihre Freundin an und vergass dabei sogar, sich die Gabel in den Mund zu schieben.
«Am nächsten Morgen fand ihn ein Lehrer. Schmied wurde auf dem Friedhof begraben, auf geweihtem Grund. Aber er kam trotzdem zurück, denn sein Mörder wurde nie gefunden. Wie er geschworen hatte, kam Schmied nicht zur Ruhe. Die Bediensteten, die aufräumen mussten, bekamen sein Blut nie ganz aus dem Teppich. Im Treppenhaus roch es noch Jahre später nach getrocknetem Blut, und wann immer man den Teppich wusch, färbte sich das Wasser rot. Das Treppenhaus wurde nicht mehr benutzt, da mehr als ein Schüler auf der Treppe ausgerutscht und fürchterlich gestürzt war. Schliesslich beschloss man, den Teppich herauszureissen, in der Hoffnung, dem Spuk ein Ende zu machen. Doch dabei entdeckte man, dass die aggressiven Mittel, die man zur Reinigung benutzt hatte, sich in den Stein der Treppe gefressen hatten. Durch alle ihre Mühen hatten sie den Geist des Widergängers noch stärker an die diesseitige Welt gebunden. Jeder, der in diese Eindrücke tritt, wird in die Fussstapfen des unglückseligen Johann treten: Er wird dem Erfolg so nahe kommen, dass er ihn riechen kann, ihn aber niemals erreichen. Und bis jemand den Stein spaltet, bleibt es auch so.»
Lea blickte auf und sah ihre Freundin erwartungsvoll an. Maria aber kaute nur still ihre Nudeln.
«Was ist?», fragte Lea. «Hab ich’s geschafft?» Grummelnd schob Maria den Ärmel ihres Pullovers zurück. Ihr Arm war mit Gänsehaut bedeckt.
«Ha! Sieg auf ganzer Linie! Wann krieg ich meine Brownies?»
«Du bekommst sie morgen», sagte Maria. «Wieso hab ich mich eigentlich auf diesen Deal mit dir eingelassen? Ich sollte ja wissen, dass du ein Talent dafür hast, gute Geschichten zu finden. Und dass du süchtig nach Kuchen bist.»
«Das ist, weil du insgeheim genauso süchtig nach guten Stories bist wie ich, aber zu faul, um sie selbst zu lesen. Und du liebst es zu backen. Wie du siehst, ergänzen sich unsere Interessen hervorragend. Darum sind wir auch beste Freundinnen.»