Mein dunkler Fluss

Von Skyla Rossi

Sitzung 4
«Wie geht es Ihnen heute?»
«Geht so.»
«Haben Sie sich an unsere Vereinbarung gehalten?»
«Sie trauen mir nicht?»
«Zeigen Sie mir doch bitte Ihre Arme.»
«Ich lüge nicht.»
«Fühlen Sie sich so nicht besser?»
«Denke schon. Ich meine, das sollte ich doch. Oder?»
«Es wird dauern. Ihr Körper war zu lange an diese Substanzen gewöhnt. Aber geben Sie nicht auf. – Wie haben Sie geschlafen?»
«Schlecht. Ich habe jetzt so einen Traum, in dem ich renne. Es ist ganz komisch. Ich renne nicht weg, sondern – es ist eher so, als versuchte ich, jemanden einzuholen.»
«Wissen Sie, wen Sie einholen wollen?»
«Nein. Also, ich glaube nicht. Ich weiss nur, dass es mir wichtig ist, diese Person einzuholen. Ich weiss nicht, warum ich ihn – also es ist ein Mann. Irgendwie ist es mir offenbar wichtig.»
«Sind da noch andere Personen?»
«Ja, nein. Ich bin mir nicht sicher. Ich war nur auf ihn konzentriert.»
«Wissen Sie, was geschehen wird, wenn Sie ihn eingeholt haben?»
«Da ist so eine Art Gefühl. Ich weiss nicht. Es ist dieses ungute Gefühl, das man hat, wenn gleich etwas Schreckliches passieren wird. Dieses Schaudern, das einem den Rücken hinunterkriecht. Diese Dunkelheit, die langsam auf einen zukommt und alles verschlingt. Wissen Sie, was ich meine?»
«Ja, ich glaube schon. – Und das Ende?»
«Es gibt keins. Ich will ihn einholen. Doch es ist dunkel. Tiefe Nacht. Und da sind so viele Gassen und Nebenstrassen. Ich verliere ihn aus den Augen. Er ist plötzlich weg. Von der Dunkelheit verschluckt…»

Sitzung 5
«Wie geht es Ihnen heute?»
«Ich hatte wieder diesen Traum.»
«Zeigen Sie mir doch bitte Ihre Arme.»
«Sie denken im Ernst, ich komme hier drin an den Stoff? Und halluziniere mir diese Scheisse dann herbei? –»
«Ich habe meine Pflicht zu erfüllen, wie Sie wissen. Nun zu Ihrem Traum. Sie sagen, es ist immer derselbe?»
«Er ist nie ganz gleich. Es ist, als ob ich ihn lenken kann, ihn verändern und formen. Wie diese Bücher für Kinder, in denen man verschiedene Möglichkeiten hat und dann je nach dem woanders weiterlesen muss. So einen Traum hatte ich noch nie. Manchmal renne ich schneller und hole dadurch mehr auf. Ich nehme auch nicht immer denselben Weg, manchmal biege ich irgendwo ab und komme so näher an diesen Mann heran. Erreicht habe ich ihn aber noch nie. Er hört auch nicht auf meine Rufe, keine Ahnung. Und die Art, wie er rennt. – Merkwürdig.»

Sitzung 6
«Wie fühlen Sie sich?»
«Gestern kam ich ihm richtig nahe.»
«Dieser Traum beschäftigt Sie noch immer, wie ich merke.»
«Und ich finde, Sie sollten mir endlich sagen, was mit mir los ist!»
«Noch sind wir nicht so weit. – Sehen Sie Ihre Familie wieder öfter?»
«Nein.»
«Ihre Freunde?»
«Nein. Aber das ist egal. Ich brauche niemanden.»
«Was ist mit Ihrem Freund, diesem Douglas?»
«Der kommt auch nicht. Aber, wie gesagt, es ist okay.»

Sitzung 7
«Sie sehen gut aus. Wie fühlen Sie sich?»
«Echt gut. Immer besser. – Ich habe diesen Mann zwar noch nicht eingeholt, aber ich komme ihm näher. Vorgestern hätte ich es beinahe geschafft, ihn zu berühren. Aber er reagiert einfach nicht auf mich. Es ist, als wäre ich nicht da. Ich kann rufen, soviel ich will.»

Sitzung 18
«Und, wie fühlen Sie sich heute?»
«Es tut sich was. Gestern war ich sogar draussen. Also, ich durfte ein paar Runden drehen im Park nebenan. War echt toll! So hab ich mich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gefühlt. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich aus dieser Mühle wieder rauskomme, ein normales Leben führen kann.»
«Das freut mich sehr. Sie haben tatsächlich Fortschritte gemacht, seit Sie das erste Mal bei mir waren. Natürlich ist das Ganze ein Prozess, der vermutlich lange nicht komplett abgeschlossen sein wird. Und was ist denn mit dem Traum, den Sie immer wieder mal hatten? Sie haben schon lange nicht mehr davon gesprochen.»
«Den hab ich nicht mehr. Also, schon länger nicht. War vielleicht doch nur eine Nebenwirkung des Entzugs.»

Sitzung 21
«Wie geht es Ihnen?»
«Seit ich Sie kenne, beginnen Sie diese Sitzungen echt immer gleich. Ist das irgendwie Teil Ihres Programmes? Oder wollen Sie mich nur verarschen? – Echt jetzt? Kein Wort dazu? – Ach so, ja, ich soll ja reden hier. Gehört auch zum Programm. – Aber ich habe nichts zu sagen heute. Und nein, ich bin nicht schlecht gelaunt.»
«Leider – also, Ihr Bruder hat uns geschrieben.»
«Er hat sich gemeldet? Wann kommt er?»
«Nun, es geht um etwas anderes.»
«Sie werden es mir bestimmt gleich verraten.»
«Also, die Sache ist – Ihr Bruder hat uns mitgeteilt, dass Ihr Freund – Douglas – vor zwei Tagen an einer Überdosis gestorben ist.»
«Doug – ist tot?»
«Wenn Sie wollen, können wir darüber sprechen, aber falls Sie noch Zeit benötigen, ist das ganz normal.»
«Er – ich –»
«Lassen Sie sich Zeit, das –»
«Ich – kann das jetzt nicht.»

Sitzung 22
«Wie geht es Ihnen?»
«Er war mein bester Freund, verstehen Sie! Meine Familie hat mich im Stich gelassen, als ich abgerutscht bin. Aber Douglas war für mich da. Douglas – mein dunkler Fluss.»
«Und er war auch –?»
«Ja. Als ich eingewiesen wurde, war er ganz allein da draussen. Vielleicht – wenn ich bei ihm gewesen wäre, wäre er noch am Leben.»
«Sie haben sich helfen lassen; damit haben Sie sich doch nicht schuldig gemacht.»
«Als würden Sie sich damit auskennen. – Jedenfalls, der Traum – ich habe nie verstanden, was er bedeutet, aber jetzt macht alles Sinn.»
«Was meinen Sie?»
«Der Mann in meinem Traum, das war Doug.»
«Ich dachte, Sie haben den Traum nicht mehr?»
«Hatte ich ja auch nicht. Aber vor zwei Tagen kam er zurück.»
«Das heisst, ausgerechnet nachdem –. Erstaunlich.»

Hi Doc
Es sind jetzt schon einige Tage vergangen, aber es tut echt weh. Ich vermisse Doug. So richtig…
Wissen Sie, Sie haben mir echt geholfen. Ich glaube, dafür hab ich mich nie bedankt. Sie haben mir gesagt, der Traum habe sicher eine Bedeutung. Die hatte er auch, und was für eine.
Ich habe den Mann tatsächlich eingeholt. Es war Doug. Plötzlich hörte er auf zu rennen. Ganz ohne Grund. Er hat einfach angehalten, sich umgedreht, gewartet. Und wissen Sie, was er dann gesagt hat? Er sagte: «Lass mich nicht allein, verdammt. Nicht schon wieder. Ich brauche dich. Komm zu mir zurück.»
Dann bin ich aufgewacht, und mir war alles klar. Verstehen Sie, endlich ergibt alles einen Sinn. Der Traum kam zu Beginn meines Aufenthalts in der Klinik. Ich dachte immer, es hätte etwas mit meinem Entzug zu tun, doch das stimmte nicht. Dann, auf einmal, ging es mir besser, Sie erinnern sich vielleicht. Ich dachte echt, dass ich hier wieder rauskomme. – Zurück zu Doug, ihm aus der Scheisse raushelfen, das war der Plan. Aber dann war er einfach nicht mehr da, von einer Sekunde zur nächsten. Ist das nicht unfair? Dämliche Frage. Denn das fucking Leben ist nun mal nicht fair. Immerhin: Der Traum hat mir gezeigt, wo ich hingehöre. Zu Doug. Forever.
Ist echt nicht Ihre Schuld. Sie haben das grossartig gemacht. Tut mir leid, dass ich Sie enttäusche. Ich hab alles gegeben; für das Leben hier hat es nicht gereicht.
Alles Gute und Grüsse
Ihr Träumer