Mein Gefängnis

Von Skyla Rossi

Lass mich endlich in Ruhe! Lass mich in Ruhe den Mond anstarren. Der Mond – der ist so allein wie ich. Da sind keine Sterne, da ist nichts. Nur schwarze, gähnende Leere. – Aber nein, ich bin nicht allein. Auch wenn du jetzt behaupten wirst, dass ich niemanden mehr habe, dass mich meine Freunde, meine Familie – alle – im Stich gelassen haben, nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Das stimmt nicht. Das stimmt einfach nicht. Was weisst du denn! Was ich getan habe, musste geschehen. Es gab keine andere Möglichkeit. Wieso versteht das niemand? Wieso verstehst DU das nicht? Nach allem, was du weisst und miterlebt hast. Jetzt willst du mir einreden, dass ich all das verdient habe, aber das wird nicht funktionieren. Ich habe gekämpft. Wofür? Für mein Recht, für mein Überleben. Ich musste mich wehren. Ich weiss nicht, wie viel länger ich das noch ausgehalten hätte.
Ob es sich gelohnt hat? Ja. Nein. Keine Ahnung. Hör auf mit all diesen Fragen. Jedes Mal, wenn du auftauchst, willst du mir weismachen, dass ich im Unrecht bin, aber ich habe gewonnen. Gott lässt doch nicht denjenigen gewinnen, der im Unrecht ist. Ja, ich weiss. Er ist tot. Ich habe ihn getötet. Ob Gott das wollte? Keine Ahnung. Ich kann nichts mehr daran ändern. Jetzt muss er sich vor Gott verantworten. Genauso wie ich irgendwann. Gott wird über jeden von uns richten und wir werden seine Strafe akzeptieren. Die Wege des Herrn sind unergründlich und niemand wird sie je vollständig verstehen – so sehr wir uns das auch wünschen.
Ich meine, jemand fügt einem schreckliches Leid zu, und man soll sich nicht dagegen wehren dürfen? Würde Gott das zulassen? Im Gegenteil! Gott ist nicht grausam.
Hat mich mein Handeln hinter Gitter gebracht? Hat es mich meine Freunde und Familie gekostet? Vielleicht, aber dich habe ich ja noch. Dich und deine scheiss Moralkeule. Toll. Seit meiner Kindheit verfolgst du mich wie ein Schatten, sitzt mir im Nacken, wann immer ich für mich einstehe. War denn je einer an meiner Seite? Hat je einer für mich gekämpft? – Wer also hätte es tun sollen, wenn nicht ich. Ich musste für mich einstehen, verstehst du das denn nicht? Hätte ich etwa zulassen sollen, dass er mir alles nimmt? Hätte ich zulassen sollen, dass er mich weiterhin so behandelt? Mich schlägt? Mich demütigt? Mir ins Gesicht lacht, wenn alle anmerken, was für ein netter Vater er doch sei? Ich will keine Reue verspüren. Nicht für einen Menschen, der mich nie respektiert hat, der mich behandelte wie ein Stück Scheisse. Ach, wenn doch Mama… Wieso musste sie nur so früh sterben. Ein Autounfall. Und ich war drei. Und was hast du getan? Schon damals gabst du mir das Gefühl, es sei meine Schuld gewesen. Du wusstest genau, ich konnte nichts dafür. Und doch hast du es geschafft, dass ich mich schlecht fühlte – so, wie du es seither immer tust. Ich wünschte, sie wäre bei mir gewesen. Vielleicht – Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber ohne Mama war ich schon als kleines Kind sein einziger Gegner. Er konnte mich nicht einfach beim Brettspiel gewinnen lassen, so wie andere Väter das taten. Er wurde sogar wütend, wenn ich tatsächlich mal gewann. Du weisst, dass das nicht normal ist. Gespielt mit mir hat er ja generell nur dann, wenn er selbst gerade Lust darauf hatte. Freiwillig hat er nie etwas für andere getan. Alles, was er je tat, musste einen Nutzen für ihn haben. Er – das Zentrum der Welt. Hätte wohl gerne gehabt, dass die ganze Welt sich um ihn dreht, dass alle Menschen ihn lieben und sogar dann klatschen, wenn er nur ein Glas Wasser trinkt. Wie ich diese perfekten Menschen hasse. Es sind immer diese netten, unscheinbaren Menschen, die zu den schlimmsten Taten neigen – und wage es jetzt nicht, mir zu sagen, dass ich bin wie sie. Ihn fanden immer alle lieb und nett. Aber lieb ist eben doch nur die kleine Schwester von scheisse, stimmts?
Niemand hätte mir geglaubt, was hinter geschlossenen Türen ablief. Niemand hätte geglaubt, dass er mich schlug, mich würgte. Den rötlichen Fleck an der weissen Wand hätte niemand für eine Erinnerung an den Wutausbruch gehalten, bei dem er ein Weinglas gegen die Wand geschmettert und weitere Gegenstände zerstört hatte. Oder wer hätte mir geglaubt, wenn ich erzählt hätte, woher der Bruch seiner Hand tatsächlich rührte? Ich denke nicht, dass mir jemand geglaubt hätte, dass er gegen meine Zimmertür schlug, um hineinzugelangen, als ich mich während einem seiner Wutausbrüche versteckt hatte. Nicht einmal dann, wenn ich ihnen die Delle in meiner Tür gezeigt hätte. Ich meine, du glaubst mir das ja auch nicht – von akzeptieren ganz zu schweigen. Du bist wie alle andern. Du bist auf seiner Seite.
Ich hatte keine andere Wahl, als endlich für mich selbst einzustehen. Und ja, dann ist es ausgeartet! Er musste endlich für all seine Taten bezahlen. So, wie auch du mich jetzt für meine bezahlen lässt, obwohl du weisst, dass es notwendig war. Ich habe um meine Würde und um meine Freiheit gekämpft, zählt das denn gar nichts? Ausserdem stehe ich ja jetzt für meine Schuld gerade, ich akzeptiere meine Bestrafung, denn ich hatte einen guten Grund. Ich sitze meine Strafe ab, damit ich mit reinem Gewissen vor Gott stehen kann. Er wird mich verstehen. Und nein, ich will von dir gar nichts dazu hören, es interessiert mich nicht.
Ich war für ihn immer nur eine Ausgeburt seines Selbsthasses, mit dem er selbst nie klarkam. Das vermute ich zumindest. Wer weiss schon, was in seinem Kopf ablief? Eine andere Erklärung habe ich nicht. Oder ist es möglich, dass einer, der so ist wie mein Vater, sich nicht selbst hasst? So sehr, dass er auch alle anderen hasst – und am meisten sein eigenes Fleisch und Blut? Er hätte den Hass gerne verdrängt, doch das ging nicht. Und an jedem Tag, an dem sein Selbsthass ihn vollständig aufzufressen drohte, fing er an, gegen mich zu kämpfen, anstatt sich endlich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und es war niemand da, der ihn aufhalten würde. Das wusste er. Es ist ja so viel einfacher, die Fehler anderer zu kritisieren, andere mit Füssen zu treten, wann immer man will. Nicht wahr? Wer wüsste das besser als du.
Aber vielleicht verliere ich langsam den Verstand. Ich habe ihn vermutlich schon längst verloren. Es hat keinen Sinn mehr, dass du dich andauernd meldest. Als ich auf ihn einschlug und nichts mich mehr stoppen konnte, als sein Blut an meinen Händen klebte und es mich nicht einmal störte, als er sich nicht mehr wehrte und diese Freude in mir aufstieg – diese Freude, dass ICH ihn besiegt hatte – da war es vermutlich vorbei mit mir. Und das Irrwitzigste an all dem ist, dass er mir mit seinem Tod nahm, was mir als Einziges geblieben war. Die Freiheit meiner Gedanken. Meinen Verstand.
Jetzt sitze ich hier allein und verlassen in einer Zelle und starre den Mond durch die kalten Gitterstäbe an. Es stimmt, ich habe keine Freunde und keine Familie mehr. Niemand will mehr etwas von mir wissen. Für alle bin ich eine Mörderin. Ein trauriges Abbild meines alten Selbst. Es stimmt, ich bin gar nichts. Ich war noch nie etwas. Ich bin so allein wie der verdammte Mond am sternenlosen Himmel.
Und jetzt verpiss dich!