Nächtliche Begegnung

Von Sarah Hunziker

Ein Rauschen schlich durch die Stille. Aus der Ferne hörte es sich dumpf an, doch wenn man näherkam, konnte man das Plätschern des Meeres vernehmen. Der milde Wind, der um die Häuser zog, verbreitete den Duft von Rosenblüten, die zu dieser Jahreszeit vor jedem zweiten Haus gediehen. In die meisten Häuser war Ruhe eingekehrt. Bloss hinter einzelnen Fenstern konnte man Licht erkennen. Vielleicht war ein Kind aus seinem Schlaf gerissen worden, oder ein Künstler arbeitete bis spät in die Nacht.
Ein Gebäude lag ganz am Rande des Städtleins. Bis zum Zentrum mit dem grossen Springbrunnen musste man einige Minuten Fussmarsch einberechnen. Wenn man das Haus so betrachtete, konnte man meinen, dass in einem vergangenen Jahrhundert jemand die Haustür das letzte Mal geöffnet hatte. Nur die aufmerksamsten Bewohner bemerkten den alten Mann, der tagtäglich durch den Vorgarten humpelte, sich auf eine Bank setzte und die vorbeigehenden Menschen beobachtete. Jedes Mal, wenn jemand den schmalen Kiesweg vor seinem Haus entlang ging, der direkt ans Meer führte, musterte er die Person ganz genau und dachte sich eine Geschichte für sie aus. Manchmal waren es schöne Geschichten, die dem alten Mann ein Lächeln aufs Gesicht zauberten, manchmal waren es traurige, die ihn an seine eigene Vergangenheit erinnerten. Mittlerweile hatte er sein Leben von diesem täglichen Ritual abhängig gemacht.
In einer lauen Sommernacht schlief der alte Mann unruhig. Immer wieder wachte er auf und drehte sich von der einen auf die andere Seite. Ein Bild verfolgte ihn, verschwommen und unklar in der Aussage, doch jedes Mal, wenn er erwachte, stand es vor seinem inneren Auge. Schliesslich setzte er sich vorsichtig auf, zündete eine Kerze an und machte sich auf den Weg ins Untergeschoss. Die flackernde Flamme liess die wenigen Möbel auf den Steinwänden tanzen. Doch der Mann liess sich von den gespenstischen Schatten nicht beirren. Auch seine getigerte Katze, die es sich auf der warmen Ofenbank gemütlich gemacht hatte, döste friedlich vor sich hin und träumte wohl von ihrer jüngsten Mäusejagd. Der Mann ging zur Tür und warf einen Blick nach draussen, doch da waren nur die Bäume, die sich sanft im Wind wiegten.
Da der alte Mann nicht wieder ins Bett wollte, setzte er sich auf die Bank vor dem Haus. Der Schein des Vollmondes erhellte die Umgebung und erlaubte ihm eine atemberaubende Sicht aufs Meer, auf dessen ruhiger Oberfläche sich die Sterne spiegelten.
Eine Weile sass er da und blickte in die unabsehbare Weite. Er verlor sich in allerlei Gedanken, fragte sich, wie weit die Unendlichkeit reichte, und versuchte die Tiefe des Meeres zu ergründen. Und mit einem Mal hatte er wieder dieses Bild vor Augen. Ihre tiefblauen Augen funkelten und ihre vollen Lippen waren zu einem bitteren Lächeln geformt. Sie war nach dem Tod seiner Eltern seine Rettung gewesen. Und er hatte sie mit seinem Starrsinn in die Verzweiflung getrieben.
Der alte Mann erhob sich rasch von der Bank. Um das Bild aus dem Kopf zu kriegen, verliess er sein Grundstück und ging auf die Klippen zu. Hier war der Wind um einiges stärker, er spürte das Salz auf den Lippen. Auf halbem Weg blieb der Mann stehen, schloss für einen Moment die Augen und genoss die frische Brise auf der Haut. Als er die Augen wieder öffnete, fiel ihm ein heller Schimmer ins Auge. Er blinzelte ein paar Mal, bis er direkt an der steil abfallenden Klippe eine Gestalt zu entdecken glaubte. Ein Funkeln schien von ihr auszugehen.
Der alte Mann ging auf die Gestalt zu, deutlich erkannte er, dass sie ihm den Rücken zuwandte und aufs Meer hinaussah. Erst als er sie beinahe berühren konnte, drehte sie sich zu ihm um. Jetzt erkannte der alte Mann, dass es sich um einen Jungen handelte, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er war abgemagert, in sich zusammengefallen. Das Licht, das er eben noch verströmt hatte, war erloschen, aber er war da, der Mann konnte die feinen Gesichtszüge klar erkennen. Und die Augen, die ihn mit starrem Blick durchbohrten. Sie schienen etwas von ihm zu fordern, und der alte Mann überlegte sich, wie mit ihm ins Gespräch zu kommen wäre. Doch da wandte sich der Junge von ihm ab und blickte hinab in die finstere Tiefe, wo das Wasser tosend an die Felsen schlug.
«Es war nicht deine Schuld.» Die Stimme des Jungen liess den alten Mann zusammenfahren. Sie klang fremd, als käme sie nicht aus dem Jungen, sondern vom anderen Ende des Meeres. Der Junge tat einen Schritt zum Abgrund, dann einen weiteren. Dem alten Mann versagte die Stimme, doch es gelang ihm, den Jungen am Oberarm zu fassen. Der Alte spürte, wie sich seine Finger tief ins warme Fleisch gruben. Doch der Junge war schwer, kaum vermochte der Mann den mageren Körper zu halten, ein unsichtbares Gewicht schien ihn in die Tiefe zu ziehen. Als den Mann die Kräfte verliessen, rutschte der Junge über den Rand der Klippe. Doch er fiel nicht, denn der alte Mann hatte ihn in einer letzten Anstrengung neu zu fassen gekriegt.
«Du musst loslassen», sagte der Junge plötzlich. Seine Stimme klang kühl, gefasst, so, als hätte er sich schon tausende Male von der Klippe gestürzt.
«Auf keinen Fall! Das kann ich nicht!», schrie der alte Mann, obwohl er spürte, wie er selbst mehr und mehr den Halt auf dem feuchten Untergrund verlor.
«Es war nicht deine Schuld», wiederholte der Junge. Der alte Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. Ihm wurde heiss, er glaubte zu glühen. Dann liess er den Jungen los.
Der Mann zuckte und stiess einen kurzen Schrei aus. Er rieb sich die Augen, sah in die Tiefe, wo sich das Wasser sanft am Fuss der Felsen kräuselte. Der alte Mann zitterte. Hatte er es eben versäumt, ein junges Leben zu retten? Hatte er die Hand dieses merkwürdigen Jungen wirklich losgelassen? – Es war nicht deine Schuld. – Der Mann griff sich an den Kopf, raufte sich die Haare. Es war nicht seine Schuld? Wie war das zu verstehen? Bevor er in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, erschien ihm wie aus dem Nichts wieder das Bild der jungen Frau. Jetzt glaubte der Mann zu verstehen. Er blickte anklagend in den Himmel, versuchte vergeblich zu schreien. – Meine Liebe, meine Rettung. Nicht meine Schuld? Dass du das Leben nicht mehr ausgehalten hast – nicht meine Schuld? –
Die Frau lächelte. Doch diesmal war es anders. Jede Bitterkeit war aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Züge waren entspannt und strahlten vollkommenen Frieden aus.
Der alte Mann schloss die Augen. Mit einem Mal überkam ihn eine grosse Leere. Erschöpft legte er sich in das vom Wind gebürstete Gras. Der alte Mann atmete tief und leicht und er spürte nichts als eine unendliche Müdigkeit.