Schwarz auf Grau

Von Olivia Studer

 

Der abgestandene Kaffee steht auf dem Tisch, dazu paar übrig gebliebene Brötchen. Mein Vater sitzt am Ende des Tisches, die Lesebrille tief auf der Nase, die Zeitung in den Händen. Als er mich eintreten hört, springt er auf mich zu. Er verzieht die Lippen zu einem leichten Grinsen, bevor er mich fest in die Arme zieht. «Alles Gute.» flüstert er mir ins Ohr, und ich befreie mich aus seiner Umarmung. Sein Blick gleitet von meinen langen, strähnigen Haaren, der verschmierten Wimperntusche über das Schlabbershirt hinunter zu meiner mittlerweile viel zu grossen Jogginghose. Ich sehe seine eingefallenen Wangen, die weissen Haare am Bart, welche in den letzten zwei Monaten dazu gekommen sind. Mit einem Räuspern tritt meine Mutter aus der Küche, in den Händen einen Zitronenkuchen, darauf 18 Kerzen. Als sie vor mir steht, beginnt sie zu singen, und mein Vater stimmt mit ein. Sie strahlt, und ich erwidere ihr Lächeln zögernd. Ich schliesse die Augen, hole tief Luft und puste mit aller Kraft. Meine Mutter schneidet den Kuchen an und legt ein Stück auf den Teller vor mir. Dann reicht sie mir einen Stapel Briefe. Ich packe ihn, schiebe den Stuhl ruckartig zurück und eile den Flur hinunter in mein Zimmer. Mit zittrigen Fingern zerwühle ich den Stapel, suche nach einem Brief, nach seinem Brief. Ohne das Gesuchte gefunden zu haben, stecke ich den gesamten Stapel in meine Tasche.

Die Musik dröhnt aus den Lautsprechern, vermischt sich mit dem Lachen meiner Freunde. Vom plötzlichen Bedürfnis nach frischer Luft getrieben, bahne ich mir meinen Weg durch die Menge, über die Tanzfläche in Richtung Tür. Das Gesicht meiner besten Freundin schiebt sich in mein Blickfeld. Den besorgten Blick aufmerksam auf mich gerichtet. Ich setzte ein übertriebenes Lächeln auf.
«Ich weiss, es ist nicht einfach», ruft sie mir über die laute Musik hinweg zu. «Ich meine, heute hier – und ohne…»
«Es ist alles in Ordnung, habe ich doch gesagt. An meinem nächsten Geburtstag wird er hier sein.»
Mein Puls beschleunigt sich, meine Hände zittern. Sie tritt einen Schritt zurück, einen weichen mitleidigen Blick in den Augen.
«Natürlich, aber bist du nicht der Meinung – ich wollte nur…»
Sie seufzt, verstummt.
Ich reisse mich los, greife nach der Tasche, stolpere nach draussen.
Kalte Luft auf meiner warmen Haut. Nur noch leise ist die Musik zu hören. Als ich nach dem Feuerzeug suche, stosse ich auf den Stapel Briefe. Erneut durchsuche ich ihn, suche nach dem Brief meines Bruders. Dem Brief mit Erklärungen und Antworten. Aber es gibt keinen Brief, natürlich nicht. Es gab nie einen und wird auch nie einen geben. Schmerzhafte Erinnerungen blitzen auf, wie er an seinem Geburtstag freudestrahlend auf seinem neuen Fahrrad sitzt, wie er mich tröstet, als mein Hamster stirbt, wie wir zusammen den Weihnachtsbaum schmücken.
Ich renne, renne so schnell ich kann, bleibe erst stehen, als über mir Schläge der Kirchenuhr ertönen. Schwer atmend streiche ich mir den Schweiss aus dem Gesicht. Dann gehe ich durchs Tor. Ich bewege mich nur langsam. Stein um Stein komme ich der Wahrheit näher. Schwarz auf Grau leuchtet mir schliesslich mein Bruder entgegen. Ich setzte mich auf den Boden neben den kunstvoll geschliffenen Stein. Erneut blitzen Bruchstücke von Vergangenem auf, erneut durchzuckt mich dieser Schmerz. Ich lege die Arme um den Stein, halte ihn, wie ich meinen Bruder gehalten habe, als er in seinem Zimmer auf dem Boden lag. Als ich das Messer aus seiner Hand genommen, meine Hände auf seine Wunde gedrückt habe. Als ich nach unseren Eltern geschrienen habe, verzweifelt mit meinen blutverschmierten Händen über seine Wangen gestreichelt habe, durch sein Haar gefahren bin. Ich umfasse den Stein fester, schmiege mich an ihn. Er fühlt sich warm an. Irgendwie warm.