Sturz in den Himmel

Von Olivia Studer

 

Olivia Studer
Sturz in den Himmel



Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten. Wo habe ich meine Schlüssel liegenlassen? Wo habe ich mein Fahrrad hingestellt? Das ist niemandem aufgefallen. Hin und wieder Dinge zu vergessen oder zu verlegen, war schliesslich nichts Aussergewöhnliches. Doch als ich anfing, die Namen meiner besten Freunde zu vergessen und manchmal nicht einmal mehr wusste, wie ich zum Nachnamen heisse, wurde ich zum Hausarzt geschleppt. Gefühlte tausend Tests musste ich über mich ergehen lassen. Ohne Erfolg. Der Grund für meine Vergesslichkeit blieb unbekannt.
Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Ich vergass, wie ich nach Hause komme und wo ich wohne. Ich wurde zu einem Spezialisten gebracht, und nach ein paar weiteren Tests stellte dieser fest, dass ich ernsthaft erkrankt war. Das konnte doch nicht sein, dachte ich. Ich war ja erst zwanzig. Nach der Diagnose forschte ich im Internet; der Jüngste, der mit dieser Krankheit diagnostiziert worden war, war siebenundzwanzig Jahre alt. Damit hatte ich wohl einen neuen Rekord aufgestellt.
Die ersten Monate waren die schlimmste Zeit. Mein Verstand war eigentlich noch klar, während mir Stück für Stück die Erinnerung herausgerissen wurde. In dieser Zeit habe ich noch verstanden, wie verzweifelt meine Eltern und Freunde waren, mir dabei zusehen zu müssen, wie mein Verstand immer benebelter wurde und ich immer mehr von meinem Gedächtnis verlor. Sie sahen mich in das grosse Unbekannte stürzen, hilflos, ohne Auffangnetz. Wie gelähmt sass ich daneben, ich hatte keine Macht mehr über mich, ich hatte keine Macht mehr über meine Erinnerungen, ich hatte keine Macht mehr über meinen Verstand.
Später nahm ich um mich herum meist kaum mehr etwas wahr. War ich für kurze Zeit mal wieder bei Verstand, wusste ich schon wenig später nichts mehr davon. Danach vergass ich so ziemlich alles, was man vergessen kann. Das war allerdings nicht wirklich schlimm, da ich von dem allem ja nichts mitbekam. Was für eine Ironie. Jetzt, da ich im freien Fall bin, kann ich mich wieder an alles erinnern. Sagt man nicht, wenn man stirbt, zieht das ganze Leben an einem vorbei? Wenn es zu spät ist.

Heute war ich wieder einmal so verwirrt, dass ich ohne Grund von zu Hause abhaute. Ich kletterte auf die Klippe, den höchsten Punkt in unserem Dorf, und genoss die Aussicht. Ich weiss nicht, was ich mir dabei gedacht hatte, in meinem Zustand auf diese Klippe zu steigen. Um ehrlich zu sein, hatte ich seit der Diagnose nie gewusst, was ich mir bei etwas dachte. Ich trat also so nah wie möglich an den Klippenrand und starrte auf die Wiese unter der Klippe. Als ich so dastand, wusste ich, dass ich dort unten irgendetwas erlebt hatte. Es war keine Erinnerung, eine Ahnung, vielleicht. Und es musste etwas Schönes gewesen sein, etwas Unvergessliches, eigentlich. Mir wurde warm. Doch je mehr ich versuchte, mich daran zu erinnern, desto dichter wurde der Nebel in meinem Kopf.
Früher habe ich immer gesagt, dass ich mich an alles erinnern möchte, an mein ganzes Leben. Aber offenbar kann man das nicht so einfach steuern. Leider. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, nach und nach aus dem eigenen Leben gerissen und ein anderer zu werden.
Ich starrte so lange auf diese Wiese, bis mir schwindlig wurde. Ein leichter Windstoss – und ich verlor das Gleichgewicht. Ich kippte nach vorn, meine Füsse verloren den Halt.

Ich falle immer noch. Der Boden ist nicht mehr weit entfernt. Die Erinnerungen, die zurückgekommen sind, bringen mir nun auch nichts mehr. Eigentlich können die Erinnerungen ja nicht zurückkommen, in meinem Fall schon gar nicht. Das haben mir die Ärzte zumindest gesagt. Nie wird jemand erfahren, dass ich ein Wunder erlebt habe und noch immer erlebe. Im freien Fall gibt es kein Zurück. Und selbst wenn – ich wäre nicht geheilt. Ich will nicht dorthin zurück, nicht in diesen Nebel, in diese Gleichgültigkeit, nicht jetzt, nicht mehr. Ich will in den Himmel, in den Himmel, von dem ich in den Büchern gelesen habe und den ich in den Filmen gesehen habe. Ich will an ihn glauben, den Himmel. Vom Himmel aus kann ich auf meine Familie und meine Freunde achtgeben. Darauf aufpassen, dass sie sich wegen mir nicht verrückt machen, denn das brauchen sie nicht. Schliesslich mache ich mich auch nicht verrückt. Sie sollen sich auch nicht die Schuld geben, denn sie tragen keine. Deshalb will ich an den Himmel glauben.
Die Wiese – jetzt – ich spüre keinen Schmerz. Nichts. Ich sinke nur immer tiefer und noch tiefer. Ins Bodenlose, ins Schwarze, dem Himmel entgegen.