Swing-Kids

Von Caroline Buck


Rauchige Klänge erfüllten das Café König in Hamburg. Auf der Tanzfläche tummelten sich Dutzende Jungen und Mädchen – Amalia Heller war eine von ihnen.
Plötzlich hielt sie inne. Ihr Blick fixierte eine Gestalt auf der Treppe, die in den oberen Bereich des Cafés führte. Trotz des dichten Zigarrenqualms hatte sie den jungen Mann sofort erkannt. Die Mütze hatte er sich tief ins Gesicht geschoben. Seine grauen Augen blitzten unheilverkündend.
Die Glücksgefühle, die Amalia noch auf der Tanzfläche durchströmt hatten, waren verflogen. Sie knirschte mit den Zähnen und bahnte sich einen Weg zum Rand der Tanzfläche, wo ein Junge zum Takt der Musik wippte, die Augen geschlossen und ein Glas in der Hand. Das dunkelblonde, zerzauste Haar fiel ihm ins Gesicht. Er trug ein weitgeschnittenes, kariertes Sakko, die Ärmel hatte er lässig umgeschlagen.
«Benny! – Komm mit!»
Er schlug die Augen auf. Amalia packte ihn am Ärmel und zerrte ihn zu einem der winzigen Tischchen, die man des Platzes wegen an die Wand geschoben hatte. Amalia liess sich auf einen Stuhl fallen. Stirnrunzelnd sah Benny sie an und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
«Was ist los?», fragte Benny und stellte das Glas auf den Tisch.
«Justus.» Amalia verschränkte die Arme vor der Brust.
«Justus?»
«Er ist hier. Justus Stoiber ist hier.» Mit zusammengekniffenen Augen sah sie in Richtung Treppe, wo ein junges Paar lachend auf den Stufen sass.
Benny ballte die Hände zu Fäusten.
«Also spioniert er schon wieder für seine Freunde», knurrte er.
Amalia nickte. Benny setzte sich zu ihr. Die Band stimmte einen neuen Swing an.
«Wir sollten Malte Bescheid geben», meinte Benny und deutete auf einen Mann, der es sich ebenfalls auf einem Stuhl gemütlich gemacht hatte, eine Zigarre paffte und zur Musik pfiff.
«Und dann sollten wir uns – oder ich mich – aus dem Staub machen. Sonst flippt meine Mutter aus.» Sie seufzte, während sie sich von Benny hochziehen liess, und schlüpfte dann in ihre Jacke.
Gemeinsam marschierten sie zu Malte rüber, der fluchte und wüste Verwünschungen ausstiess, als ihm Amalia von Justus berichtete. Als er sich wieder eingekriegt hatte, brummte er: «Besser, ihr verschwindet.» Er drückte seine Zigarre aus. «Nehmt den Bühnenausgang. Ich hoffe mal, der wird nicht überwacht!»
Amalia und Benny taten, wie geheissen. Die Musik hinter ihnen verklang, und als sie aus der Hintertür traten, atmeten sie auf. Keine Menschenseele war zu sehen.
Benny liess die Schultern fallen. Amalia hakte sich bei ihrem Freund unter, lautlos gingen sie durch die schmalen Gassen.
«Was fällt denen eigentlich ein», sagte Amalia mit unterdrückter Stimme. «Langsam habe ich das Gefühl, dass jeder meiner Schritte überwacht wird und jedes meiner Worte belauscht.»
Amalia legte den Kopf in den Nacken und spähte in den Nachthimmel zu den verstreuten Sternen, die blass funkelten. «Sieh mal, selbst die Sterne sind traurig.» Sie schob sich eine ihrer kastanienbraunen Locken hinters Ohr. «Vielleicht sieht Teddy die gleichen Sterne wie wir.»
Sie suchte Bennys Hand.
Wenn er nur hier wäre, dachte sie. Teddy hätte uns gesagt, dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Er hätte rumgealbert, um uns zum Lachen zu bringen, und dann hätten wir mit ihm weitergewitzelt. – Amalias Gedanken malten ein Bild: Teddy, der neben ihnen herging; die langen Arme schlenkerten um seinen drahtigen Körper, sein unbe- schwertes Lachen flog durch die Nacht. – Und nun machen wir uns doch Sorgen. Und zwar um ihn.
«Falls er sie überhaupt sehen kann.»
«Natürlich sieht er die Sterne, Benny», antwortete Amalia mit fester Stimme.
Benny begleitete sie bis vor die Haustür, dann schlenderte er wie- der in die Nacht hinaus.
Im Dunkeln tapste Amalia die Treppe hoch und erschrak, als sie die mollige Gestalt ihrer Mutter erblickte. Aus dem Schlafzimmer fiel ein fahler Lichtschein in den Flur. Frau Heller trug einen geblümten Morgenrock mit Rüschen. Die Arme hielt sie tadelnd vor der Brust verschränkt. Wortlos betrachtete sie ihre Tochter.
Amalia starrte zurück. Sie wartete auf eine Ermahnung ihrer Mutter, doch diese schlurfte zurück in ihr Schlafzimmer. Amalia hatte die sorgenvollen Tränen ihrer Mutter gesehen. – Gewiss, dachte sie, Mama litt, wenn sie weg war. Hatte Angst, ihr würde etwas zustossen, vor allem, seit Papa in den Krieg gezogen war. Aber, sie würde nicht aufhören, zu den Swing-Partys zu gehen. Das König war längst zu ihrem zweiten Zuhause geworden. Im König fanden Sorgen keinen Platz, da gab es nur die Musik und pure Lebensfreude. Im König konnte sie sich der Umklammerung des Alltags für einige Stunden entwindenden – und vergessen, dass da draussen irgendwo ihr Vater vielleicht gerade so dem Tod entwischte. Ausserdem konnte sie Benny nicht im Stich lassen.
Amalia ging am Schlafzimmer der Mutter vorbei in ihr eigenes Zimmer. Leise zog sie die Tür hinter sich zu.

Luftige Wolken hingen am Himmel. Amalia hüpfte die steinernen Stufen des Gymnasiums hinunter. Sonnenstrahlen kitzelten ihr Gesicht. Am eisernen Schultor entdeckte sie Benny. Wie immer trug er einen Regenschirm bei sich. Gut gelaunt pfiff er vor sich hin. Sie unterdrückte ein Grinsen, als sie auf ihn zuging.
«Hallo», sagte Amalia.
«Hallo. – Soll ich die nehmen?» Er deutete auf die Schultasche, die sie in den Händen hielt.
«Lass nur, die ist nicht besonders schwer. Mathe, Deutsch, Physik», zählte sie auf, während sie sich in Bewegung setzten. «Und, wie war es bei der Arbeit?», fragte Amalia.
Benny zuckte mit den Schultern.
«So wie immer eigentlich. Heut’ war nicht besonders viel los.» Kräusel ringelten sich auf seiner Stirn. Die Spitze des Regenschirms klackerte über den Bürgersteig.
«Und du? Hast du etwas von deinem Vater gehört?»
«Soll alles in Ordnung sein. – Aber wie kann da draussen alles in Ordnung sein? Da ist nichts in Ordnung, Benny!»
«Vor ein paar Jahren hat mir mein Vater mal vom Krieg erzählt.
Dann nie wieder.»
«Und du hast nie mehr gefragt?»
«Er hat nie mehr erzählt.»
Beide starrten geradeaus, gingen wortlos weiter durch die Strassen Hamburgs, bis sie den Plattenladen erreichten, nach dem Café König Amalias zweitliebsten Ort.
Als sie eintraten, lächelte sie eine Frau mit grauen, hochgeklemmten Locken an.
«Na! Schaut ihr auch mal wieder vorbei!»
«Guten Tag Käthe», schallte es zweistimmig zurück.
Käthe nickte über die Schulter. «Hinten ist neues Zeug hereingekommen.»
Benny klemmte sich den Schirm unter den Arm, und Amalia folgte ihm in den hinteren Teil des Ladens.
«Da ist Ludwig!» Amalia deutete auf einen Jungen im selben Alter, der bei ihren Worten von der Vinyl-Platte in seinen Händen hoch- blickte und grinste. Das dunkle Haar streifte den Kragen seines zerknitterten Hemdes. Das linke Auge zierte ein Veilchen.
«Hey, was ist denn dir zugestossen?», platzte es aus Amalia heraus.
«Ach, das!» Lachend winkte Ludwig ab.
Benny, der durch die Schallplatten stöberte, kniff die Augen zusammen und tauschte einen Blick mit Amalia aus.
«Guck mal, Benny, die wird euch bestimmt gefallen!» Ludwig drückte Amalia eine Platte in die Hände und zwinkerte.
«In den Bergen. – Wir sollten Käthe sagen, dass sie sich bessere Decknamen ausdenken soll.»
«Die Stücke sind klasse. Der Rhythmus – einfach himmlisch», schwärmte Ludwig. «Und das Saxophonsolo, so will ich spielen können!»
«Am Samstag hast du übrigens toll gespielt», sagte Amalia.
«Ja, nicht?!» Ludwig strahlte.
Zu dritt zwängten sie sich in eines der Musikkabinette und legten die Schallplatte auf das Grammophon. Schulter an Schulter standen sie da und lauschten.
«Fang bloss nicht an zu tanzen, Benny, hier ist kein Platz», witzelte Ludwig.
Amalia lachte. Benny verdrehte die Augen.
Schliesslich kaufte Ludwig die Platte, und die drei traten ins Freie. In der einen Hand trug Ludwig seinen ledernen Saxophonkoffer, in der anderen einen Beutel, in dem er die neue Schallplatte verstaut hatte.
Die drei gingen die Elbe entlang und unterhielten sich über alles, was zwischen Himmel und Erde lag. Manchmal prusteten sie los, lachten, bis ihre Bäuche schmerzten und sie über den Bürgersteig taumelten, dann verfielen sie wieder in ernstes Schweigen und schwammen gegen den Gedankenstrom in ihren Köpfen.
«He, Swingheinis!» Sie fuhren herum.
Justus Stoiber kam auf sie zu stolziert, ein zynisches Lächeln im Gesicht. Sein blondes, ordentlich gescheiteltes Haar glänzte. Hinter ihm marschierten drei seiner Freunde.
Benny schnaubte herablassend, als Justus vor ihnen stehen blieb und sie mit einem abfälligen Blick bedachte.
«Verzieh dich, Justus», knurrte Benny.
«Meinst wohl, du hättest mir was zu sagen?» Er wandte sich Ludwig zu. «Lass mal sehen!» Mit einer energischen Bewegung riss er ihm den Beutel aus der Hand.
«Gib das her!» Ludwig liess seinen Koffer fallen und holte zu einem
Faustschlag aus.
Gleichzeitig griffen Amalia und Benny nach seinem Arm und hielten ihn zurück. Bedrohlich hatten sich die anderen Jungen hinter Jus- tus aufgebaut, der genüsslich den Umschlag mit der Platte aus dem Beutel holte. Über sein Gesicht huschte ein verächtlicher Ausdruck. Er liess die Platte fallen und stand auf sie drauf. Es knackte.
«Ihr seid Verräter.»
Nun wollte ihm auch Benny eine reinhauen. Amalia stellte sich da- zwischen und funkelte Justus an.
«Lieber bin ich eine Verräterin als so einer wie du.»
«Ihr werdet schon sehen. Lange könnt ihr Swingheinis das Gesetz nicht mehr brechen.»
Justus und seine Jungs drehten sich um, unter ihren Füssen knirschte es.
«Man kann nicht alles verbieten! Musik kann man nicht verbieten. Kunst kann man nicht verbieten. Freude kann man nicht verbieten!», brüllte Ludwig ihnen nach.
Amalia kniete sich hin, um die ölschwarzen Scherben aufzusammeln. Mit zorniger Miene liess sich Ludwig neben Amalia fallen.
«So ein Mist. Das ganze Geld von den Auftritten, das ich zusammengekratzt habe.»
«Kopf hoch, Ludwig», sagte Benny und klopfte ihm auf die Schul- ter. «Schon diesen Samstagabend findet euer nächster Auftritt statt. Da kommt dann wieder was in die Kasse.»

«Nein.» Frau Heller verschränkte die Arme vor der Brust.
«Aber wieso? Mama!»
«Weil ich das so sage.» Amalias Mutter nahm eine Treppenstufe nach der anderen ins Erdgeschoss hinunter.
«Ich will doch nur tanzen gehen!» Amalia stampfte hinterher, das Poltern ihrer Schritte hallte durch das ganze Haus. «Da ist doch nichts dabei!»
Abrupt drehte sich die Mutter zu ihr um. Nasenspitze an Nasenspitze standen sie sich gegenüber.
«Da ist sehr wohl etwas dabei. Es ist verboten, Amalia!»
«Man kann nicht alles verbieten», zitierte Amalia Ludwig.
«Oh doch, Amalia. Die können das. Ich will doch nicht, dass dir etwas zustösst.»
«Was soll mir denn schon zustossen?!», fragte Amalia, während sie sich in ihrem Kopf hundert Dinge ausmalte, die geschehen konnten und die ganz sicher nicht harmlos waren.
«Und was ist dann mit diesem Jungen – Theodor geschehen? Plötzlich war er verschwunden.»
Amalia schluckte. «Ich weiss es nicht. Niemand weiss es.»
«So etwas will ich nicht erleben, verstehst du», sagte Frau Heller, brummte noch etwas, was Amalia nicht verstand, und floh in die Küche.

Im Haus der Hellers herrschte Ruhe. Frau Heller schlief. Amalia war hellwach. Jetzt oder nie, dachte sie. Dann: Man kann nicht alles ver- bieten. Ich habe Benny schon vor Tagen versprochen, dass ich zur Party im König komme. – Ich bin jung. Ich will Spass haben. Mein Leben erstreckt sich vor mir wie das Meer. Ich will nicht nur am Strand stehen und die Füsse im kühlen Sand vergraben. Ich will schwimmen. Ich will leben. Nur für ein paar Stunden.

Die Luft im Café König war stickig. Es roch nach Vergnügen, Unbeschwertheit und Hoffnung. Die Band spielte ein schnelles Stück. Inbrünstig spielte Ludwig das Saxophon.
Benny stand am Rand der Tanzfläche und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Seine Mundwinkel zuckten, als er Amalia sah, und mit federnden Schritten ging er auf sie zu.
«Lass uns tanzen!» Er zog sie am Jackenärmel auf die Tanzfläche.
Amalia lachte und stolperte ihm hinterher. Sie wirbelten umher.
Sie lachten.
Sie fühlten sich grenzenlos.

Plötzlich riss die Musik quietschend ab. Schreie erfüllten das Café. Männer in Uniformen zerrten Mädchen und Jungen von der Tanzfläche. Justus Stoiber schleifte den sich wehrenden Ludwig mit.
«Ludwig!», schrie Amalia.
«Wir können nicht helfen. Los, wir müssen verschwinden. Den Bühnenausgang können wir vergessen, aber in der Männertoilette hat es ein Fenster. Sollte gross genug sein.»
Benny zog Amalia hinter sich her. Unbehelligt erreichten sie die Toilette und schlossen die Tür hinter sich ab.
«Schnell», drängte Benny und formte seine Hände zu einer Räuberleiter. «Ich komme nach. Versprochen.»
Die Kommandos und das Donnern der schweren Stiefel schienen lauter zu werden.
Amalia setzte einen Fuss auf seine Hände, zog sich hoch und öffnete das Fenster. Sie zwängte sich durch den Rahmen und glitt in die Nacht, als die Tür gegen die Wand krachte. Amalia stieg auf einen Mülleimer, der im Hof stand, und warf noch einmal einen Blick in die Toilette. Justus und seine Jungs drängten sich in den Raum, warfen Benny zu Boden und traten auf ihn ein.
Als spürte er Amalias Blick, sah er zum Fenster hoch. Sein schmerz- verzerrter Mund formte ein einziges Wort.