Gespräch in Cis-Moll

von Priska Steinebrunner


In den Gängen des Musikhauses herrschte das übliche Durcheinander verschiedener Klänge und Melodien, von einzelnen Tonabfolgen bis zu komplexeren Stücken konnte man alles hören, und dieses unfreiwillige Zusammenspiel verschiedener Instrumente bildete eine ganz eigene Form von Musik. Die Treppe knarzte unter seinen Füssen, als er hinaufstieg. Vor einem der Zimmer blieb er stehen, blendete alle anderen Geräusche aus und konzentrierte sich nur auf die Musik, die aus diesem Zimmer drang. Das Stück war von Chopin, irgendein Walzer in Moll. Wie oft hatte er schon hier gestanden und ihr beim Üben zugehört, trotz der leisen Angst, jemand könnte ihn dabei erwischen. Auch jetzt wollte er am liebsten stehen bleiben, zuhören und warten, bis der letzte Ton verklang und er sich ins nächste freie Musikzimmer retten musste. Aber heute ging das nicht. Er wartete, bis sie das Stück beendet hatte, dann klopfte er und öffnete die Tür.
Überrascht sah sie von ihren Noten auf.
«Was ist?»
«Ich – ich würde gerne mit dir reden…»
«Aha. Und über was?»
«Darf ich reinkommen?»
«Eigentlich bin ich gerade am Üben…»
«Bitte, es ist wichtig.»
Sie verdrehte die Augen.
«Aber fass dich kurz. Nächste Woche ist das Konzert.»
Er hatte ihren Namen auf dem Programm des Abschlusskonzerts gelesen. Das Datum war in seiner Agenda rot markiert. Er trat ein und schloss die Tür, stand für einen Moment einfach da, unsicher, wie er anfangen sollte. Dann atmete er tief durch.
«Wie geht es dir?»
«Gut?»
Sie sah ihn halb ungeduldig, halb ärgerlich an, mit den Fingerspitzen ihrer linken Hand tippte sie auf das Knie, als ob sie schon wieder am Klavier sässe.
«Und deine Noten? Also ich meine, wirst du’s schaffen?»
«Wenn ich die Musikprüfung morgen nicht versaue, und das sollte wirklich kein Problem sein, dann ist mein Schnitt positiv und ich werde auch das nächste Jahr in dieser Klasse verbringen. Falls es das ist, was du meinst.»
«Dann ist die Chemieprüfung gut herausgekommen?»
Sie zog die Augenbrauen hoch und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich von ungeduldig zu misstrauisch.
«Komm schon, du bist nicht hier, um irgendwelchen Smalltalk mit mir zu führen, und sicher auch nicht, um meine ach so tolle Gesellschaft zu geniessen. Also entweder, du spuckst jetzt aus, was dir so auf dem Herzen brennt, oder du lässt mich in Ruhe.»
Sie konnte nicht wissen, dass dieses Gespräch für ihn alles andere als Smalltalk war. Aber tatsächlich gab es da noch etwas anderes, wozu er ihre Meinung hören musste.
«Glaubst du, dass es Gründe gibt – ich meine: Gründe, die Gewalt rechtfertigen?»
«Was soll die Frage? Ausgerechnet von dir.»
«Bitte, ich möchte deine Meinung dazu hören.»
«Oh, Herr Gutmensch möchte meine Meinung hören.»
Sie richtete sich auf, sah ihn herausfordernd an. Er schwieg und starrte zurück, bis sie schliesslich seufzte.
«Ich verstehe nicht, warum ihr denkt, ihr müsst euch für alles rechtfertigen. – Wenn du die Möglichkeit hast, etwas zu tun, dann tu es oder lass es bleiben, mit den Konsequenzen leben musst du sowieso. Es ist eine lästige Angewohnheit der Menschen, alles in richtig und falsch einteilen zu wollen.»
«Also du sagst, man kann einfach auf einen Menschen einschlagen, aus reiner Willkür – und das ist nicht falsch?»
«Willkür? Wenn du etwas tust, dann hast du immer einen Grund. Und wenn es auch nur der Grund ist, dass es sich gut anfühlt. Niemand hat das Recht, über diesen Grund zu urteilen.»
«Aber wie kann es denn nicht falsch sein, einem anderen Wesen Schaden zuzufügen?»
«Was ist denn richtig und falsch? Das sind Dinge, die uns die Gesellschaft eintrichtert, die uns sagt, was wir tun und wie wir sein sollen. Und gerade du solltest doch wissen, dass Moralvorstellungen zwar schön und gut sind, dass sie aber mit einem Wimpernschlag verrauchen können, wenn es darauf ankommt.»
«Was möchtest du mir damit sagen?»
Seine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Sie schnaubte bloss.
«Jetzt tu nicht so unschuldig. Wir alle haben gesehen, wie du, der schulbekannte Pazifist, auf Bastian eingeschlagen hast. Weil er – wie war das noch? – ein paar beleidigende Worte über deine Mutter gesagt hat? Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen, und jetzt erzähl mir nicht, dass du das nicht wolltest. Gib es doch zu, jeder Schlag in sein Gesicht hat sich so verdammt gut angefühlt, du konntest gar nicht mehr aufhören.»
Er öffnete den Mund und blickte zu Boden. Er wollte ihr wiedersprechen, aber er konnte nicht. Auf Bastian einzuschlagen hatte sich tatsächlich so gut, so richtig angefühlt, und hätten ihn seine Freunde nicht von ihm weggezerrt und hätte niemand einen Lehrer gerufen, dann hätte er weiter geschlagen, hätte seine Nachricht noch tiefer in ihn hineingeprügelt, so lange, bis er sich nicht mehr geregt hätte.
«Dacht ich’s mir doch», sagte sie. «Du bist doch auch nur einer von denen, die glauben, sie wüssten, was richtig und was falsch ist, aber im Endeffekt ist auch bei dir alles nur Willkür, wenn du es so nennen willst. Und da dir das nun klar geworden ist, bricht deine ganze Welt zusammen, und ich soll sie dir wieder aufbauen! – Schau mal, es ist ganz einfach: Du hast etwas getan, die Schulleitung wird über die Konsequenzen entscheiden, und wirst sie tragen, auch wenn das bedeutet, dass du von der Schule fliegst.»
In ihrem Gesicht lag eine solche Verachtung, dass sich alles in ihm zusammenzog. Er hob den Kopf.
«Und was ist mit dir? Wenn jemand herausfindet, wie du die Chemieprüfung bestanden hast, dann würdest du ebenfalls von der Schule fliegen. Lebst du dann auch einfach mit den Konsequenzen?»
Sie zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment sah sie ihn fassungslos an, dann lachte sie trocken.
«Bist du gerade wirklich enttäuscht von mir? Du siehst so aus, als ob du wirklich geglaubt hättest, ich sei ein guter Mensch oder so etwas. Tut mir leid, aber es gibt keine guten Menschen. Ich habe nur getan, was notwendig war, damit nicht eine einzige Note meine gesamte Zukunft ruiniert.»
Sie stand so schnell auf, dass der Klavierstuhl fast umkippte, und trat auf ihn zu. Wut blitzte in ihren Augen, eine Wut, die er schon so oft in ihrer Musik gehört hatte. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, als ob sie nur auf eine Gelegenheit gewartet hätten, auf jemanden, gegen den sie sich richten konnten.
«In dieser Welt bekommt man nichts geschenkt. Alles, was ich bis jetzt erreicht habe, habe ich mir selbst erarbeitet, niemand hat mir dabei geholfen, und ich werde nicht zulassen, dass ein blödes Schulsystem mir die Möglichkeit nimmt, in zwei Jahren Musik zu studieren! Und dafür lass ich mich nicht verurteilen, denn keiner, wirklich keiner hat das Recht, das, was ich tue, als falsch zu bezeichnen!»
Schwer atmend stand sie vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Fingerknöchel weiss hervortraten, während er vergeblich versuchte, ihrer Wut standzuhalten. Unmerklich sackte er in sich zusammen. Dann wandte er sich zur Tür. Auf der Schwelle verharrte er einen Moment, drehte sich noch einmal um.
«Bastian wollte dich bei unserem Chemielehrer verpfeifen», sagte er tonlos. «Ich musste ihn aufhalten. Deshalb.»
Dann verliess er den Raum.