Das innerste der Welt

Von Priska Steinebrunner

Die Welt um sie herum ist weiss, als wäre alles in dichten Nebel gehüllt. Berührten ihre Füsse nicht den Boden, sie könnte nicht sagen, wo oben und wo unten ist. Sanftes, weisses Licht scheint von überall zu kommen, vielleicht leuchtet sie selbst ebenfalls, denkt sie, als sie an ihrem Körper hinuntersieht. Kein Geräusch dringt zu ihr, und so steht sie einfach da, geniesst die Stille und betrachtet das Weiss.
Irgendwann meint sie eine Bewegung im Weiss zu sehen. Sie legt den Kopf schief und macht einige Schritte in die entsprechende Richtung. Eine graue Gestalt taucht aus dem Nebel auf, ein Schatten in menschlicher Form, bei dem sich nach und nach Gesichtszüge und Konturen herausbilden. Ein weiterer Körper taucht auf, dann noch einer und noch einer. Sie geht auf die Gestalten zu und streckt die Hand aus, zuckt zusammen, als ihre Finger auf Widerstand treffen. Feine schwarze Risse überziehen ihre Fingerkuppen. Sie weicht zurück, doch um sie herum sind weitere Gestalten erschienen. Ein Wispern und Murmeln erfüllt die Stille. Sie dreht sich um die eigene Achse, runzelt die Stirn. «Wer seid ihr?», fragt sie, doch keine der Gestalten antwortet. Inzwischen sind es bereits so viele, dass sie sie nicht mehr zählen kann. Immer dichter drängen sich die Gestalten zusammen. Eine rempelt sie von hinten an. Als sie ihre Schulter betrachtet, erkennt sie dort ebenfalls schwarze Risse. Sie weicht einer anderen Gestalt aus, noch einer, dann stolpert sie und fällt. Niemand nimmt Rücksicht auf sie, sie wird wieder angerempelt, getreten, nur mit Mühe schafft sie es, wieder aufzustehen. Weitere Risse überziehen ihren Körper, überall dort, wo jemand an sie gestossen ist. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Blick huscht hin und her, sucht nach einem Ausweg, doch das Gedränge wird immer dichter, überall sind nun die Gestalten. Als sie glaubt, eine Lücke zu sehen, stürzt sie darauf zu, prallt gegen Körper, weicht aus und versucht, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ellenbogen bohren sich in ihre Rippen. Ihr ganzer Körper ist nun von Rissen überzogen, aus denen eine dunkle Flüssigkeit austritt. Inzwischen weicht sie nicht mehr aus, sie drängt und stösst, während ihr Puls rast und die Risse sich weiter ausbreiten.
Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren, als die Menge sich zu lichten beginnt. Sie läuft los, stösst eine Gestalt zur Seite, und vor ihr blitzt es weiss auf, und dann liegen die Gestalten auf einmal hinter ihr. Sie rennt weiter, will so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Gestalten bringen. Ihr ganzer Körper schmerzt, verliert an Kraft. Sie stolpert, fällt, steht auf, stolpert wieder und bleibt schliesslich liegen, nach Luft schnappend, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Mit letzter Kraft hebt sie den Kopf. Weit vor sich sieht sie etwas, das so unglaublich hell strahlt, dass sie den Blick wieder abwenden muss. Von dort aus verlaufen goldene Stränge wie ein Geflecht von Adern, sie durchziehen alles bis zu ihr hin und noch weiter, als wäre die Welt nie rein weiss gewesen. Überall ist nun das goldene Licht, es fliesst vom Zentrum aus durch die Stränge, pulsierend, als befände sich in diesem Zentrum ein gewaltiges Herz. Sie kann die Gegenwart des Herzens hören, es ist, als umgäbe sie eine Musik aus anderen Sphären, Klänge, Melodien, die sie im Mark erschüttern. Farben, die sie noch nie zuvor gesehen hat, tanzen vor ihren Augen und sie spürt, wie das Licht durch die Risse in den Körper eindringt. In ihrer Brust ballen sich Gefühle, die sie nicht benennen kann und die immer stärker werden, bis sie schliesslich anfängt, heftig zu schluchzen. Sie glaubt in tausend Stücke zu zerbrechen, doch sie spürt, wie die Risse an ihrem Körper sich schliessen, einer nach dem anderen, bis ihre Haut wieder heil ist.
Als ihre Tränen versiegt sind, steht sie auf und sieht sich um. Das Herz und die Adern sind verschwunden, um sie herum ist nichts als das von Stille erfüllte Weiss. In der Ferne kann sie die Gestalten ausmachen, graue, konturlose Schatten im Nichts. Sie schluckt, atmet aus, ein, dann lächelt sie und geht auf sie zu.