Aus einem zoologischen Tagebuch

Von Sofiya Schweizer

 

Tag 1
20. August, 1886 – ein denkwürdiger Tag. Denn sie sind angekommen. Zwei Männchen und zwei Weibchen. Alle zwischen fünfzehn und vierzig Jahren, das genaue Alter kann nicht definiert werden, da keine Dokumente vorhanden sind. Die Gruppe ist ruhig und fügsam, eine Familie. Im Moment ruhen sie sich in ihrem Gehege aus, morgen fahre ich mit detaillierteren Beobachtungen fort.


Tag 2
Wir haben jeden Einzelnen untersucht. Grundsätzlich sind sie gesund. Das jüngere Männchen leidet allerdings an Unterernährung; der genaue Plan mit kalorienreichem Essen ist schon erstellt, morgen wird die Spezialnahrung geliefert. Die Gruppe ist immer noch erschöpft von der Reise, jedoch hat das junge Weibchen schon angefangen, die Umgebung zu untersuchen. Jedem wurde ein Name zugeteilt.
Hier die spezifischen Merkmale jedes Einzelnen:
Dominik: männlich, 166 cm am Scheitel, 59 kg, kräftig Leo: männlich, 164 cm am Scheitel, 44 kg, schwach
Lisa: weiblich, 152 cm am Scheitel, 54 kg, schielt ein wenig Amanda: weiblich, 142 cm am Scheitel, 40 kg, sehr beweglich
Wir lassen sie jetzt schlafen. Die Eröffnung findet erst in zwölf Tagen statt; bis dahin sollten alle ausgeruht und fit sein.


Tag 4
Das Gehege: flächenmässig sehr grosszügig, 40 Quadratmeter! Wir haben einen kleinen Teich gegraben, fünf grosse Büsche gepflanzt (einheimische, denn die kongolesischen würden in der Schweiz nicht überleben), drei Bäume standen schon da. Zusätzlich haben wir zwei kleine Bungalows für sie gebaut.
Seit vier Tagen führe ich nun schon Buch über meine Beobachtungen, und ich muss sagen, dass die Bewohner entgegen meiner Annahme nicht wie eine Familie auf mich wirken. Die Weibchen sind oft nebeneinander zu sehen, doch die Männchen zeigen Interesse weder für die Weibchen noch für einander. Wahrscheinlich sind sie nur teil- weise (oder gar nicht) miteinander verwandt. Da muss beim Lieferanten noch einmal nachgefragt werden. Vertraglich wurde uns nämlich ausdrücklich «eine Familie» zugesichert.
Morgen fangen wir mit der Dressur an; mal sehen, wie begabt sie sind.


Tag 7
Die Jüngste kanns mit Abstand am besten. Ich denke, ihre Solo-Auftritte werden gut ankommen. Der Rest taugt überhaupt nichts. Zu überlegen wäre, ob wir Leo und Dominik miteinander kämpfen lassen, sagen wir, um Lisa. Mal sehen. Da Leo viel schwächer ist, würde Dominik wohl gewinnen und so seine Dominanz unter Beweis stellen. Witzig übrigens, dass der Name so gut passt. Auf jeden Fall wird ab sofort jeden Tag geübt.
PS: Ihre Essgewohnheiten überraschen mich. Die Bananen scheinen ihnen gar nicht wirklich zu schmecken. Aber Brot, Mais, Äpfel – das mögen sie. Und Zucker. Natürlich nur als Belohnung.

Tag 8
Der Lieferant kommt morgen vorbei. Dann wird sich einiges klären. Das mit dem Kampf könnte funktionieren, sieht übrigens schon deutlich interessanter aus. Die Kleine ist heute allerdings nicht wirklich bei der Sache. Kein Zucker also.


Tag 10
Ihre Art zu kommunizieren, fasziniert mich. Weicher Klang und exotische Melodien! Wunderlich, so wunderlich!
Der Lieferant ist ein dämlicher Kerl. Erstens kam er zwanzig Minuten zu spät, und zweitens konnte er mir nicht erklären, warum die sogenannte Familie sich nicht wie eine Familie verhält. «Vielleicht sind sie müde.» Blödsinn. Wenn mir eine Familie versprochen wird, will ich auch eine Familie bekommen. Dafür werde ich kämpfen.


Tag 13
Morgen ist die grosse Eröffnung. Noch eine letzte Probe, noch einmal sechs Stunden – dann werden sie auf den Punkt bereit sein.
Im Moment gibt es nicht viel zu berichten, alles läuft so, wie es soll. – Ach ja: Der Lieferant war heute wieder da; wir haben uns auf eine finanzielle Entschädigung geeinigt. Ich bekomme 5’000 Franken, dafür lass ich ihn in Ruhe. Er weiss, wie man Geschäfte macht.


Tag 14
Eine Wahnsinns-Schau war das. Alles perfekt gelaufen. Zwölf Stunden ohne Pause, aber sie haben durchgehalten. Sogar Amanda. Und das Publikum – das waren bestimmt ein paar tausend Leute, und jeder legte sieben Franken in die Kasse. Besser hätte es wirklich nicht laufen können. Amanda ist ein richtiger Star, ein Journalist schoss ein Foto von ihr, was für eine Ehre. Leo verletzte sich während des fünften Kampfes, nichts Schlimmes, er hinkt jetzt ein bisschen.
Jeger war auch da. Mit Familie! Er gratulierte mir zur Eröffnung. Ich muss zugeben, ein wenig stolz bin ich schon. Er wünschte mir viel Erfolg für die Zukunft und hat eine mögliche gemeinsame Geschäftsführung angedeutet. Wir bräuchten natürlich noch mehr Völker; halt wie es Jeger in Deutschland macht. Asiaten wären nicht schlecht, viel- leicht irgendein Inselvolk. Ich müsste es mir genauer überlegen. Heute aber nicht mehr. Jetzt brauch ich erst mal ein wenig Schlaf.