Scherben

Von Olivia Studer

 

Der kleine Junge starrt auf den Körper vor sich. Er kneift die Augen zusammen, noch nie hat er ein totes Tier gesehen. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Er tastet nach der Hand seiner Freundin, unfähig, den Blick vom Tier zu abzuwenden. Papa sagt immer: Wenn du mit offenen Augen durch das Leben gehst, so stösst du auf die aussergewöhnlichsten Dinge. Manche verdienen es beachtet zu werden, verdiene es, dass du dich um sie kümmerst. Nachdenklich beisst Louis sich auf die Lippen, runzelt die Stirn. Er lässt seinen Blick schweifen, sucht nach etwas, auf dem er den kleinen Vogel transportieren kann. Er lässt Fionas Hand los, rennt auf die andere Strassenseite und klettert über den Zaun, in den Garten der alten Dame. «Lou komm zurück, was machst du?» Louis reagiert nicht. Er lässt sich auf die Knie fallen und sucht den Boden ab. Nach wenigen Sekunden findet er, was er gesucht hat. Freudestrahlend, das grosse Ahornblatt triumphierend über den Kopf gestreckt, klettert er über den Zaun und rennt zurück zu Fiona.
«Was willst du mit dem Blatt? Was soll das?»
Fiona hasst es, wenn Louis sie nicht in seine Abenteuer einweiht.
«Ich werde den Vogel mit nach Hause nehmen, ich werde ihn beerdigen», sagt Louis trotzig. Er beugt sich über den Vogel und schiebt die Finger unter den kalten Körper. Für einen Moment hört er seine Mutter, wie sie sagt: Was auf der Strasse liegt, lässt man liegen. Man stolpert nicht über wertvolle Dinge, man lässt Unnützes liegen. Mit einem Ruck kommt der kleine Vogel auf das Blatt zu liegen. Vorsichtig hebt Louis ihn hoch, sieht in unsicher an und setzt seinen Weg nach Hause fort. Fiona stampft mit verschränkten Armen neben ihm her.
«Nie weihst du mich in deine Pläne ein, alles machst du alleine.»
Louis runzelt die Stirn. Er mag es nicht, wenn sie wütend ist. «Du bist natürlich eingeladen, an die Beerdigung meine ich.»
Ein Lächeln lässt Fionas Gesicht erstrahlen und sie drückt Louis einen Kuss auf die Wange. «Wir sehen uns Morgen Lou!», ruft sie ihm zu, bevor sie in ihre Strasse einbiegt und hinter der Hecke verschwindet. Louis kratzt sich am Kopf, der sich sehr heiss anfühlt. Er geht weiter, die anfängliche Entschlossenheit hat ihn verlassen. Beim Gedanken an seine Mutter bekommt er ganz schwitzige Hände. Er stolpert die Treppe zur Haustür hoch, atmet tief durch. Die Tür ist nur angelehnt. Wie er über die Schwelle tritt, schlägt ihm Rauch entgegen, Louis muss husten. Dann tapst er ins Wohnzimmer. Seine Mutter liegt mit geschlossenen Augen auf der Couch, die Fernbedienung fest umklammert, als hielte sie eine Waffe in der Hand. Ihr rotes Haar hängt ihr in Strähnen übers Gesicht, Augenringe lassen ihre bleiche Haut noch heller erscheinen. Louis berührt seine Mutter an der Schulter.
«Mama?»
Sie schlägt die Augen auf.
«Mama, kannst du mir…»
«Lass mich in Ruhe Louis, lass mich weiterschlafen.»
Sie legt die Fernbedienung auf den Tisch, zieht die Decke bis zum Kinn und dreht sich weg. Erneut streckt Louis seine Hand aus, berührt sie an der Schulter.
«Lass mich, nur noch ein paar Minuten!»
Er stapft in die Küche, schiebt einen Stuhl vor den grossen Schrank. Vorsichtig klettert er hinauf, stellt sich auf die Zehenspitzen, ertastet auf der obersten Ablage die Schere, das Papier und die Stifte, die er für den Grabschmuck braucht. Mit einem Ruck zieht er das Bastelmaterial nach vorne und verliert das Gleichgewicht. Er rudert mit den Armen, versucht Halt zu finden, und bevor er begreift, was geschieht, fällt das wertvolle Geschirr seiner Mutter, zerspringt am Boden in tausend Stücke.

In den Armen seiner Mutter sitzt Louis am Tisch. Sie streicht ihm über den Kopf, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und macht sich daran, ihn zu füttern. Während sie den Löffel am Rand des Breiglases abstreift, fängt Leon am Boden an zu quengeln. Er vermisst sein Lieblings-Stofftier. Louis versucht an den Brei zu kommen, streckt seine Ärmchen aus und wischt den Brei samt Glas vom Tisch. Seine Mutter flucht. Wütend sucht sie nach einem Besen, um die Glasscherben aufzuwischen. Mit einem Mal ist es ganz still. Dann ein leises, ersticktes Wimmern. Panisch schaut Louis Mutter sich um, stürzt sich auf den am Boden sitzenden Leon zu.
«Er hat eine Glasscherbe verschluckt, Tom, er hat eine Glasscherbe verschluckt! Ruf einen Krankenwagen, schnell! – Er darf nicht sterben, er ist doch mein Baby. Leon ist mein Kind.»

Louis hört die schweren Schritte seiner Mutter. Dann steht sie vor ihm. Ihre Augen funkeln vor Wut.
«Mama, ich wollte nur Stifte und Papier, um…»
«Mein bestes Geschirr, das Geschirr deiner Grossmutter!» Als sie Luft holt, fällt ihr Blick auf den toten Vogel.
«Sag mal spinnst du? Was soll das, Louis?»
Louis zuckt zusammen, hält sich die Hände schützend über den Kopf.
«Du bringst einen toten Vogel nach Hause? Ich fass es nicht.»
In diesem Moment wird die Tür zugeschlagen. Louis rennt auf seinen Vater zu, versteckt sich hinter dessen langen Beinen.
«Was ist denn hier schon wieder los?»
«Siehst du das nicht?», sagt Louis’ Mutter. «Zerstören ist das Einzige, was er kann.»
«Ich wollte nur den kleinen Vogel beerdigen», stammelt Louis.
«Sei still! – Ich habe es immer gesagt, Tom. Kauf ihm keine Steinschleuder, hab ich gesagt.»
«Natürlich, ich bin also mal wieder schuld. Wie immer, wenn etwas schiefläuft.»
«Irgendwann tötet er, habe ich gesagt.»
«Was soll das denn jetzt?»
«Siehst du ja selbst», sagt Louis’ Mutter und zeigt auf den toten Vogel.
Verzweifelt und verwirrt steht Louis zwischen seinen Eltern. Beide atmen schwer, ihre Augen sind zu Strichen zusammengekniffen, tiefe Falten haben sich auf ihren Gesichtern gebildet. Louis sieht ihre wutverzerrten Gesichter, ihre Münder, wie sie sich bewegen. Wie sie Dinge sagen, die sie später bereuen werden. Dinge, die niemand mehr ungeschehen machen kann. Er ballt die Hände zu Fäusten.
«Du weisst genau, dass Lou so etwas nie tun würde. Unser Kind tötet kein Lebewesen.»
Louis Mutter lacht verächtlich auf: «Ach ja?»
Ungläubig starrt Louis Vater sie an. Für ein paar Sekunden ist das einzige Geräusch, das man hört, das schwere Atmen der beiden. Sie streiten sich wegen ihm, sie streiten sich immer wegen ihm. Louis hält sich die Ohren zu, er muss hier weg.
Als Fiona die Tür öffnet, beginnt sich Louis wieder zu spüren. In der einen Hand hält erden kleinen Vogel, die andere umklammert eine Schaufel. Fiona strahlt. Ohne etwas zu sagen, nimmt sie ihm die Schaufel aus der Hand und zieht ihn in Richtung Garten «Komm schon!», sagt sie. «Wir haben einen Vogel zu beerdigen.»