Virtuoso

Von Matthias Schmid

 

I
Auf der Empore am Kopfende des prunkvollen Saales sass die edle Dame mit ihren Leibwächtern und genoss die Darbietung. Ihre Garde bestand aus acht hochdekorierten Soldaten, allesamt hochgewachsen und von tadellosem Aussehen. Neben der unverzichtbaren Hellebarde trug jeder der Männer ein Degen mit Goldgriff und eine edel gearbeitete Ein-Schuss-Pistole zur Schau. Etwas abseits, in der Nähe der Tür zum Balkon, war ein weiterer Mann zu sehen; er trug eine schlichte Uniform, einzig ein Orden wies ihn als Kommandanten der Wachtruppe aus. Steif lehnte Talon an der Wand, den Blick auf die Dame gerichtet. – Schon wieder ein Konzert. Bereits das dritte diese Woche, und wie er Adélaïde kannte, würde es nicht das letzte sein.

II
Was für ein unerträgliches Wesen! Ständig diese Bemerkungen über die angebliche Unterlegenheit anderer Nationen. Und dann diese übertriebene Liebe zur Musik. Lächerlich. Die armen Kerle letzten Monat. Verdiente Tänzer allesamt, aus allen Herren Ländern. Aber nicht gut genug. Nicht gut genug für Madame. Und jetzt gibt es sie nicht mehr, jedenfalls nicht mehr als Tänzer. Und was haben sie falsch gemacht? Sie nicht im richtigen Land geboren! Das ist verheerend, wenn du mit diesem launischen Bourbonentöchterchen zu tun hast. Neben Hunger und Pest die schlimmste Katastrophe. – Aber was solls. Pflicht ist Pflicht. Ich habe hier aufzupassen – und ich tu es für den König.

III
Talon verlagerte das Gewicht vom einen Fuss auf den anderen. Er lauschte dem vollen Klang des Orchesters, während sein Blick zur Decke schweifte. Er mochte sich täuschen, doch die Bläser schienen gepresster zu klingen als sonst, und einen Moment dachte er daran, dass den Musikern das Schicksal der Tänzertruppe zu Ohren gekommen sein musste. Dann klagten die Streicher, und sie taten es derart überzeugend, dass Talon eine Augenbraue hob. Zugleich spürte er eine angenehme Schläfrigkeit, die der Wärme im Festsaal geschuldet war und vom gedämpften Abendlicht noch befördert wurde, das die Goldornamente am Gewölbe und den Wänden sanft beschien.

IV
Moment. Die Balkontür. Dieses metallische Klicken. Da war es doch. – Ein Assassin! – Zwei, vielleicht drei. – Wache, kümmert euch um Madame. Du, du – da! Nehmt sie in eure Mitte und bringt sie in Sicherheit. Dort hinten, Modeste – schiess! Noch einmal, neben dir!

V
Das Orchester hatte längst aufgehört zu spielen, Talons Männer umringten die beiden Eindringlinge, während der Hofarzt ihren Tod feststellte.
Talon traute der unversehens eingetretenen Stille nicht. Er hätte schwören können, dass sie zu dritt eingedrungen waren. Aber wo war er? Seine Leute hatten doch alles abgeriegelt, auf sie war Verlass. Ehe er hätte weiterdenken können, blitzte direkt vor ihm der Lauf einer Pistole auf, gehalten von einer vermummten Gestalt. Herausfordernd stand sie vor Talon, einen Moment zu lang, und schon schlug ihr sein Degen den Puffer aus der Hand. Die Gestalt zückte nun ihrerseits den Degen, und stürzte auf Talon zu. Dieser, vom schnellen Gegenangriff überrascht, wich aus, verlor dabei für einen Sekundenbruchteil das Gleichgewicht, strauchelte und fand doch wieder den sicheren Stand, wehrte einen weiteren Hieb seines unheimlichen Gegners ab, um seinerseits in die Offensive zu gehen. Während das Gefecht hin und her wogte, brachten Talons Männer die edle Dame in Sicherheit und verriegelten die Eingänge. Talon kämpfte einen einsamen Kampf. Für sich und für den Bourbonen, seinen König.

VI
Flink bist du, Maskenmann. Wo hast du das gelernt? Merkwürdige Schule. Du tänzelst? Du wirbelst? Stich doch zu! – Du bist kein Assassin. So kämpfen die nicht. Da – und so! – Ist es möglich? Ein Tänzer? – Ein Tänzer! – Und ich werde das Muster deiner Schritte lesen.

VII
Talon trieb die maskierte Gestalt vor sich her. Immer besser gelang es ihm, die Bewegungsmuster seines Gegners zu lesen, der ein Tänzer war. Die beiden flogen fintenreich über das königliche Parkett, immer näher zur offenstehenden Balkontür, der eine mit dem unbeugsamen Geist des jungen Tänzers, der andere mit der Effizienz des gestählten Veteranen.

VIII
Die Kraft.
Ich schaff es nicht.
Ich muss – alles oder nichts.

IX
Der Tänzer hatte sich von Talons ungewöhnlichem Manöver überraschen lassen. Der Fusstritt des Alten hatte ihn in die Magengrube getroffen, der Degen fiel ihm aus der Hand, er taumelte, bis er mit dem Rücken gegen das Balkongeländer stiess. Während Talon zum tödlichen Hieb ausholte, schwang sich der Tänzer rückwärts über das Geländer. Talon schaute in die Tiefe, schaute dem Widersacher nach, wie er an der Flagge der Bourbonen vorbei entkam.
Talon, noch immer ausser Atem, sandte ihm wüste Flüche nach, dann wandte er sich um und ging gemessenen Schrittes zurück in den Festsaal. Die beiden Leichen waren weggeschafft; sie lagen in einen der Nebenräume, weisses Linnen deckte sie zu. Aber da war noch ein Tuch, das einen Körper bedeckte. Es trug das Wappen der Bourbonen. Talon blieb einen Augenblick unschlüssig davor stehen, dann zog er das Tuch zur Seite, da, wo er den Kopf des Toten vermutete, und liess den Stoff gleich wieder fallen.

X
Modeste. Ausgerechnet du.
Was für ein Leben. Weggeworfen für die Launen dieser Frau. Mein König – wie lange schaust du noch zu.