Die Zahnjäger

Von Anna Stöckli


Die Zahnjäger
Tappend bewegten sich kleine Füsse den Gang entlang. Quer durch den vom Dachfenster hereinfallenden Mondstrahl und unter einer Kommode hindurch. Über den Parkettboden klackerten die Krallen bis vors Kinderzimmer, wo das Wesen beinahe bis zu den Knien im flauschigen Teppich versank. Fluchend watete die mausgrosse Kreatur auf die riesige Tür zu. «Wer hatte nur die saublöde Idee, solche fusseligen Wolllumpen auf den Fussboden zu legen. Irgendwann werd ich noch in einem dieser Staubfänger ertrinken! Hätte ich doch Flügel. Aber nicht so zarte Schmetterlingsfügel wie diese arroganten Zahnfeen. Nein, wenn schon, dann schon so richtig tolle Fledermausflügel», schimpfte das kleine Wesen und seine moosgrünen Haare hingen ihm struppig ins Gesicht. Die schwarzen Augen funkelten wütend im schwachen Licht und es fletschte die Zähne. «Solche Flügel würden wenigstens was aushalten, anders als Rosalies dünne Flatterer. Weiss gar nicht, wie oft ich die jetzt schon aus einem Spinnennetz befreit habe. Was für ein Glück, dass ausgerechnet ich da war; jeder andere Zahntroll hätte sie da hängen lassen. Garantiert.» Grummelnd kämpfte sich der kleine Troll durch die Wollfäden, riss mit seinen Klauen den ein oder anderen aus, bis er nah genug an der Tür war. Dann kauerte sich hin und sprang mit aller Kraft seiner kleinen Beine zurTürklinke hoch. Die braunen Zotteln seines Mantels flatterten in der Luft. Die Wucht, mit der er auf der Klinke landete, drückte sie hinunter und die Tür sprang auf. Schnell liess sich Malmos wieder zu Boden fallen und quetschte sich durch den Türspalt. Das silberne Mondlicht warf Schatten auf die rosa Prinzessinnendecke und liess die Glitzersteine der Plastikkrone auf dem Nachttisch funkeln. Bei diesem Anblick verengten sich die Augen des Zahntrolls zu Schlitzen. – Mann, wie ich Rosa hasse. Das ist die schlimmste Farbe überhaupt! Dieses Zimmer wäre so viel schöner, wenn es mehr schlammbraune und pechschwarze Dinge darin hätte. Dann noch ein bisschen Schleim an der Wand – wie bei mir zu Hause. Ah, ich freu mich schon auf mein kuschliges Bett. Aber jetzt: Konzentration.
So leise wie möglich schlich sich Malmos zum Kopfende des Bettes. Ein weiterer Sprung beförderte ihn neben das Kopfkissen. Nachdenklich musterte Malmos das schlafende Mädchen. -Mit seinen blonden Locken hat sie tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Prinzessin. Um ehrlich zu sein, erinnert sie mich ein bisschen an Rosalie. Obwohl – es gibt nichts, was weiter von einer Prinzessin entfernt ist als Rosalie. Fluchen kann sie sogar besser als ich. Aber das werd ich ganz bestimmt nie zugeben.- Vorsichtig bewegte sich Malmos auf das Kissen zu. Er musste nur an den Zahn kommen, der darunter versteckt war, dann wäre er seinem gemütlichen Bett schon viel näher. Ein Seufzen erklang und das kleine Mädchen drehte den Kopf. Malmos erstarrte. -Hoffentlich wacht sie nicht auf. Bitte nicht. Das wäre dann schon das zweite Mal diesen Monat, dass ich einen Auftrag verhauen hab. Nur wegen dieser blöden Rosalie. Hätte sie mir nicht den Zahn weggeschnappt, wäre ich ihr nicht hinterhergesprungen und auch nicht auf der Nase des Jungen gelandet. Der wäre dann nicht aufgewacht und hätte uns beide nicht durchs Zimmer gejagt. Zum Glück war das Fenster offen, immerhin. Dentus hielt mir trotzdem eine Strafpredigt,, die sich gewaschen hatte.- Malmos schauderte beim Gedanken an den Trollanführer. Vorsichtig tat er einen weiteren Schritt und dann noch einen auf das Kissen zu. Ein glockenhelles Lachen schallte durch das Zimmer. – Doppelter Bockmist. Das hat mir gerade noch gefehlt. Wieso muss Rosalie immer im unpassendsten Moment auftauchen.- «Hättest gerne Flügel, was? Dann müsstest du nicht so herumschleichen», spottete Rosalie. Mit einem Grummeln hob er den Kopf. Kichernd schwebte die Fee über ihm, ihrekunterbunte Flügel schimmerten im Mondlicht, und das hellblaues Kleidchen flatterte sanft. Genervt von ihrem viel zu fröhlichen Lächeln, wandte Malmos den Blick ab. «Um in Spinnweben hängen zu bleiben? Nein danke», knurrte er. Beleidigt grantelte die Zahnfee: «Du hast mich erst elf Mal befreien müssen.» «Eben. Und wie oft hast du mich schon gerettet? Gar nie.» «Von wegen! Weisst du nicht mehr, als du von dieser Katze verfolgt wurdest? Oder das mit der Mausefalle?» Malmos wurde rot vor Wut: «Du hast versprochen, nie wieder davon zu sprechen!» «Upsi», sagte Rosalie, und sie sah überhaupt nicht schuldbewusst aus. Das war zu viel für Malmos. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf sie. Damit begann eine Hetzjagd durch das ganze Zimmer: um den Bettpfosten herum, den Vorhang hinauf, ein langer Sprung über die Barbie-Puppe, die Zahnfee immer voraus und der Zahntroll in grossen Sätzen hinterher.
Ein lautes Gähnen unterbrach unvermittelt das wilde Rennen. Rosalie stürzte vor Schreck beinahe ab, konnte sich aber im letzten Moment an der Lichterkette festklammern, die von der Decke herunterhing. Erschrocken blickten die beiden zum Mädchen, das aufrecht im Bett sass. «Ist da wer?» Die Augen nur halb offen, liess es den Blick durchs Zimmer wandern. Malmos machte sich ganz klein und hoffte, dass sie ihn hinter dem Märchenbuch nicht sehen konnte. -Nichts da, hier gibt es nichts zu sehen. Keine Feen und keine Trolle. Gar nichts. Es war nur der Wind – und jetzt schlaf weiter..- Malmos hielt den Atem an. Nach einem schier endlosen Moment stand das Mädchen auf, griff nach dem Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand, und ging zur Tür. «Glück gehabt», flüsterte er und wandte sich mit einem erleichterten Grinsen nach Rosalie um. Doch die war verschwunden. Suchend sah er sich im Zimmer um. Zu spät bemerkte er, dass die Verräterin an ihm vorbei zum Kopfkissen geflogen war, wo sie bereits nach dem Zahn suchte. Blitzschnell warf er sich nach vorn und rannte auf sie zu. Doch bevor er sie erreichte, zog sie triumphierend den Zahn unter dem Kissen hervor. Vor seinen Augen zerfiel der Zahn und formte sich zu einer rosa Münze, die Rosalie in einen Beutel steckte. Ein selbstzufriedenes Grinsen verunstaltete ihr Gesicht. – Verflixt. Schon wieder 10 Punkte für die Zahnfeen. Dentus wird mich umbringen. Wir sind jetzt schon 40 Punkte im Rückstand. Dabei wollen wir doch dieses Jahr endlich mal wieder das Turnier der besten Zahnjäger gewinnen. Damit dieser nervige Quatsch, von wegen die Zahnfeen seien die einzig wahren Zahnjäger, endlich aufhört.- Wütend biss sich Malmos auf die Lippe, um nicht loszuschreien. Stattdessen brüllte er: «Du hinterhältige Diebin! Ich war zuerst hier. Dieser Zahn hätte mir gehört!» «Hättest halt schneller sein müssen», flüsterte Rosalie schelmisch grinsend und sah in den Beutel. «Gezogen. Eindeutig. Karies. – Perfekt.» Sie streckte die freie Hand aus, bis die die Luft anfing zu schimmern und sich in ihrer Hand eine Packung Zahnseide bildete, die sie sogleich unter das Kopfkissen legte. -Wie erfinderisch, dachte Malmos. Es gibt zwar die Regel, immer etwas zurückzulassen, das mit der Art des Ausfalls zu tun hat – aber Zahnseide? Ernsthaft? Wenn es für Ideenreichtum Punkte gäbe, hätten wir längst gewonnen. Dem letzten Kariesfall hab ich ein Gebiss hinterlassen. Das hat mit Sicherheit gewirkt. – Kopfschüttelnd sah er Rosalie an, die sich vom Bett abstiess und durch das offene Fenster in die Nacht sauste.
Malmos machte sich daran, aus dem Zimmer zu verschwinden, bevor das Mädchen zurückkommen würde. Plötzlich huschte ein teuflisches Lächeln über sein Gesicht. -Was spüre ich denn da? Noch einen Zahn. Und zwar einen, der gar nicht gemeldet worden ist. Die geben das Fünffache an Punkten. Rosalie – hättest du mal besser aufgepasst. Das Mädchen hat einen Bruder. – Er flitzte ins Zimmer nebenan, dessen Tür sogar noch offenstand. Der Mond meinte es gut mit ihm. Über den Spielzeugtraktor und das Skateboard hüpfte er, bis er neben dem Kopfkissen stand. Suchend streckte er seine Hand aus und ertastete den Zahn. In seinen Klauen zerfiel der Prachtzahn und formte sich zu einer grünen Münze, die er in seinen Beutel stopfte. Dann konzentrierte er sich. Warte… Da, ich hab’s!- Dir ist also ein Aufziehauto davon gefahren, was. Den Hügel hinunter, wiess aussieht. Und du hinterher. Du bist gestolpert, gestürzt und hast dir den Zahn ausgeschlagen. Na, das nenn ich ein würdiges Ende für einen Prachtzahn wie diesen.- Schmunzelnd konzentrierte Malmos sich auf seine Hand. Kurz darauf erschien darin in knallgelbes Spielzeugauto, das er zufrieden unter das Kissen schob. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg nach Hause. -Dentus wird definitiv zufrieden sein, dachte er. Mit meinem unerwarteten Fund sind wir wieder auf Gleichstand.