Unisex

Von Benjamin Bieri


Paul steht auf. Ein paar seiner Freunde am Tisch heben den Blick und betrachten ihn. Zwischen ihnen liegen Plastiktüten und Verpackungen, Überreste des Mittagessens, ein leicht ranziger Geruch, der entsteht wenn man die Düfte von Indischem Curry, Thunfisch und Schweizer Hackfleisch mischt.
«Wohin gehst du?», fragt Alex.
«Toilette», sagt er. Die anderen wenden sich wieder ihren Schulbüchern oder Handys zu. Paul geht.
«Ist das nicht seltsam?», fragt Alex.
«Was?», sagt Katharina. Alex‘ Kopf wird heiss. Katharina. Er will nicht, dass sie seinen roten Kopf sieht. Aber er kann es nicht verhindern.
«Der war doch eben schon», sagt Alex.
«Durchfall vielleicht.»
Sie schweigen. Die Hälfte der sechs Leute am Tisch hat ohnehin nicht zugehört, denn am Nachmittag findet eine Mathematikprüfung statt, und sie müssen lernen. Katharina steht auf.
«Was ist?», fragt Alex.
«Toilette», sagt sie.
«Du bist eine Frau.»
«Ja. Auch die müssen da hin und wieder mal hin.» Sie lacht.
«Ach, ich dachte, du wolltest nach ihm schauen.»
«Nein, wieso sollte ich? Ist ja wohl seine Sache.»
Sie geht. Alex bleibt sitzen, die anderen am Tisch scheinen nicht zugehört zu haben. Sie starren auf Mathematikblätter oder ihre Handybildschirme, wo die Erklärungen aus irgendwelchen Foren leuchten. Er schüttelt den Kopf. Katharina, denkt er. Ungestört betrachtet er, wie sie zwischen den Tischen hindurch geht, die Hosen, die sie trägt, kennt er. Hin und wieder, wenn er sich sicher ist, dass sie ihn nicht sieht, blickt er auf die langen Beine, die perfekt in die Hosen passen. Nein, sagt er sich, das ist dumm. Er steht auf. Niemand beachtet ihn.
Er geht zwischen den Mittagstischen hindurch, wobei ihm von überall her neue Gerüche entgegenwehen. Jemand war auf den Gedanken gekommen, Fondue zu machen, was eine undefinierbare Übelkeit in ihm aufkommen lässt. Er erreicht die Treppe zum Untergeschoss. Es wird kühler und der Geruch neutraler, während er hinabsteigt. Katharina hat einmal gesagt, ins Unisex-Klo da unten gehe niemand, weil sie alle Angst davor hätten, eine Frau respektive einen Mann, einfach das jeweils andere Geschlecht, beim Scheissen zu hören, so weit gehe die Vorstellungskraft der Menschen dann doch nicht, und wenn man dann danach noch nebeneinander die Hände waschen muss. Gehe ich hier runter, um Katharina zu finden und ihr zu zeigen, dass ich keine Angst habe?
Alex stösst die Tür zum Unisex-Klo auf. Er hört Gelächter. Es bricht ab, als die Tür hinter ihm zufällt. Nur die Kabine für Behinderte ist besetzt. Mindestens zwei Leute, denkt Alex. Er steht still.
Ich könnte mir die Hände waschen, rausgehen und alles vergessen, denkt Alex, aber vergessen geht nicht, das ist passiv nicht aktiv. Er muss lachen. Ihm ist jetzt richtig schlecht, während er sich Katharina neben Paul auf dem Boden der Toilette vorstellt.
«Ich höre euch», sagt Alex. «Kein Problem. Ich vergesse das gleich wieder.»
«Alex?», fragt Katharina.
«Ja.»
«Musst du nicht für die Prüfung lernen?», fragt Paul.
«Alles schon im Kopf», sagt Alex.
«Der ist halt eine etwas grössere Leuchte als du, Paul», sagt Katharina. Sie lacht.
«Du bist dumm», sagt Paul. Sie lachen beide.
Alex steht, ohne sich zu bewegen, am Lavabo und schaut in den Spiegel. Seine Hände zittern, er hält sich fest. Katharina lacht, in den Armen Pauls, in seinem Kopf. Er hat sie nicht verdient, denkt er, Paul ist ein Angeber, der über nichts nachdenkt.
«Willst du auch reinkommen?», fragt Katharina.
«Was?», fragt Paul.
«Ob er reinkommen will. Wird doch lustiger. Der versteht Mathe und so.»
«Nein, ist schon gut», sagt Alex.
«Hörst du? Es ist schon gut», sagt Paul.
«Das sagt er doch nur.»
Etwas klackt. Alex dreht sich zur Tür. Das Rot unter der Türklinke wird Grün.
«Komm her!», sagt Katharina. «Es ist fast schon langweilig, nur zu zweit.»
«Aber…» Etwas, das sich anhört wie ein Kuss, unterbricht Paul.
«Lieber nicht», sagt Alex, aus dem Augenwinkel erkennt er sein hochrotes Gesicht im Spiegel.
«Ach was?»
Die Tür wird von Innen aufgestossen. Katharina tritt hinaus. Ihr T-Shirt ist verrutscht. Sie zupft es zurecht, lächelt. Er hält sich noch immer am Lavabo fest. «Wir könnten uns in eine andere Kabine einschliessen, Paul könnte nichts tun», flüstert sie.
«Was labert ihr da?», ruft Paul aus der Kabine. «Wir sind noch nicht fertig.»
Alex macht einen Schritt zum Ausgang. Er muss erbrechen, er starrt zum Lavabo, das er losgelassen hat, er schluckt die Übelkeit hinunter. «Das geht nicht», sagt er. «Nicht hier. Ich meine, das geht doch nicht. Wir haben in einer halben Stunde eine Prüfung!»
«Hast du ja alles im Kopf.» Sie hebt den Arm, ihr Zeigefinger kommt ihm entgegen, tippt gegen seine Stirn.
«Ja, nicht deswegen. Das geht doch nicht. Nicht hier. Das ist doch irgendwie nicht richtig.»
«Es geht doch überall, Mann, jetzt entscheide dich.»
«Was soll er entscheiden?», ruft Paul.
Alex steht jetzt vor der Tür zum Treppenhaus. Katharina kommt auf ihn zu. Sie küsst ihn.
«Na?»
Alex schaut sie an, schüttelt den Kopf. Er zieht die Tür auf.
«Aber danke.»