Funghe

Von Charlotte Frey


Als ich mich mit neunzehn der Tatsache stellen musste, dass meine Eltern wohl nicht mehr lange Geldautomat spielen würden, gab es nur eine Lösung: Ich musste mir einen Job besorgen. Nach langer Suche lief ich an einem Pizzarestaurant vorbei und erblickte ein Plakat mit der fetten Aufschrift «Aushilfe gesucht». Ich betrat das Geschäft und bestellte mir erst mal eine Pizza. Nachdem ich etwa drei Stücke davon gegessen hatte, kam ich zum Entschluss, mich für die Stelle zu bewerben – und es klappte. Hurra, Arbeit.
Dreistündige Schichten, drei Mal die Woche. Nach kurzer Zeit hatte ich einiges gelernt. Erstens: «Pizza con Cozze» heisst nicht Pizza mit Kotze. Zweitens: Man steht nicht mit Pizzamehl hinter dem Pizzaiolo, während dieser seine Teigshow abzieht, andernfalls fängt er an, italienische Wörter zu spucken, von denen man nur «Putana» versteht. Drittens: Das kotähnliche Zeug auf dem Tresen ist nicht zur Entsorgung gedacht, sondern eine streng riechende Delikatesse und soll ver- speist werden; zudem ist es mehr wert als das Geld auf meinem Konto. Ich war das Mädchen für alles, und dementsprechend wurde ich behandelt. Man mochte es, mich mit der Schnippelarbeit zu beauftragen.
Der einzige Lichtblick war eine Leidensgenossin namens Nadja. Es war uns eine Freude, Stunden damit zu verbringen, Schinken, Ananas, Artischocken und vor allem «Funghe», wie Nadja zu sagen pflegte, in pizzagerechte Stücke zu schneiden.
Eines Tages kam ich zu meiner Schicht und wollte eben eine Begrüssung in Nadjas Richtung werfen, als mir auffiel, dass sie nicht da war. Man hatte sie befördert. In den Service. Sie hatte nun also die Ehre, fünf Euro mehr die Stunde zu verdienen. Ich gönnte ihr den beruflichen Aufstieg von Herzen, doch ohne sie kam ich mir wie der letzte Trottel vor. Denn sie war meine Nadja, ich brauchte sie in diesem Teigschuppen. Sie gehörte mir, und keiner hatte das Recht, sie mir wegzunehmen.
Von nun an sahen wir uns also nur noch bei der flüchtigen Über-
gabe von Bestellungen. Manchmal, wenn sie sah, wie öde die Schicht mal wieder für mich war, brachte sie mir eine halbe Brotstange, die auf einem der Tische liegen geblieben war. Es war unerträglich ohne meine Nadja. Und ihr ging es nicht anders. Also heckten wir gemein- sam einen Plan aus, der mir meine Nadja zurückbringen und ihr den Dienst in der Gästebetreuung ersparen würde.
Der Operationsplan wurde an einem Freitag ausgeführt, und Herr Schuhmann sollte uns dabei unter die Arme greifen. Er war ein Stammkunde, ein ziemlich neurotisches Wesen. Jeden Freitag um achtzehn Uhr fünfzehn bestellte er eine «Pizza Alfredo». Als Schuhmann nun, wie immer pünktlich, eintrat und sein luftiges «Buongiorno» in die Gaststube flötete, war Nadja schon in den Startpflöcken. Mit einem bezaubernden Lächeln, wie es sich für eine Wohlfühlmanagerin gehörte, stand sie kurz darauf an seinem Tisch und fragte: «Was darf ich Ihnen denn heute bringen, Herr Schuhmann?» Er schaute in die Speisekarte, rümpfte die Nase und setzte ein verschmitztes Grinsen auf.
«Na, heute nehm ich wohl mal wieder eine Pizza Alfredo.»
Nina stützte sich an der Tischkante des Kunden auf. «Die hat Ihnen noch immer geschmeckt, nicht wahr? – Allerdings, wenn ich Ihnen heute eine ganz besondere Spezialität empfehlen darf – unsere Pizza Funghe, Herr Schuhmann, ein ganz neues Rezept. Eine richtige Wochenendpizza.»
Herr Schuhmann winkte ab. «Nö, danke», sagte er, ohne von der Karte aufzuschauen.
Nadja beugte sich tief zu ihm hinunter. «Und was hätten Sie gerne zu trinken?»
Schuhmann, irritiert durch die ungewöhnliche Nähe der Bedienung, verzog das Gesicht, sodass sich kleine Fältchen auf dem Nasen- rücken bildeten. «Ich denke», sagte er und lehnte sich zurück, um Dis- tanz zu gewinnen, «ich denke, ich nehm eine Cola.»
«Ach kommen Sie. Es ist Freitagabend, da darf man sich doch ein Gläschen Wein gönnen. Finden Sie nicht?»
Jetzt erst sah Schuhmann die neue Bedienung an. Sie strahlte, nickte ihm aufmunternd zu. Schuhmann zögerte, dann sagte er: «Also gut, wenn Sie meinen.»
Nadja beugte sich erneut zu ihm hinunter, sah ihm von der Seite in die Augen, während sie die verschiedenen Weine an den Fingern auf- zählte. «Wir hätten da einen exquisiten Herbemont, eine fruchtig- würzige Heroldrebe und einen Happenbach, leicht süsslich im Abgang.» Schuhmann wischte sich übers Gesicht, seine Augen tränten. Mit der Serviette fächelte er sich Luft zu. Ihm schien das alles zu viel zu werden.
«Ich glaube, ich möchte doch lieber eine Cola», sagte er und rückte von Nadja weg.
«Sind Sie sicher?»
«Ja ganz sicher. Und ich habe Hunger.»
«Wie sie wünschen», sagte Nadja, notierte die Bestellung und ging zum Tresen, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.
Als Nadja mit der «Pizza Alfredo» zurückkam, war Herr Schuhmann verschwunden. Wie wir später erfuhren, hatte er vor seinem Ab- gang dem Restaurantbesitzer ausrichten lassen, dass er in all den Jahren als Stammkunde nie so etwas erlebt habe. Eine derart übergriffige Bedienung – und dann der penetrante Geruch aus ihrem Mund. Er hätte das nicht für möglich gehalten. Eine Frechheit.
Eine schönere Rückmeldung hätten wir uns von Herrn Schuhmann nicht wünschen können. Nadja wurde als kundenuntauglich eingestuft und an ihren früheren Arbeitsplatz zurückversetzt.
Wir schnippelten also wieder gemeinsam. Schinken, Ananas, Artischocken, Pilze.
«Na», sagte ich. «Ich hoffe, du hast deine drei Sekunden Ruhm genossen.»
Nadja lachte. Sie beugte sich ganz nah zu mir hin und rümpfte die Nase. «Halt die Klappe und gib mir noch eine Funghe.»