Angst. Zwei Miniaturen

Von Aline Bigler

 

Spüren

Noch fünf Minuten. Jede überstandene Stunde ist eine Stunde weniger, in der ich die Kontrolle verlieren kann.
Es darf nicht passieren. Ganz normal schlucken, ganz normal. SCHLUCKEN.
Verdammt.
Jetzt sitze ich da. Mal wieder. Es hämmert im Kopf. Der Schädel – Achtung, da kommen Leute. Wie sie gucken, wie sie tuscheln. Reiss dich zusammen, lächle, bleib ruhig.
Was ist das denn? Weine ich jetzt? – Und natürlich: der Husten. Immer dieser Husten, wenn es mich erwischt. Und ja: Ich weine.
Atmen, einfach ruhig atmen, EIN und AUS und – Luft – ich brauch mehr Luft.
Ich zerplatze, ich berste, das Herz schlägt im Hirn, auf der Zunge, ich schlucke, ich schlucke ihn runter den Krampf, vernichte, was sich nicht kontrollieren lässt.
Ich schaff das. Ich schaffs nicht.
Into the wild.
Bis ich nichts mehr spüre. Bis das Adrenalin verpufft ist. Und schlucken und atmen und.
Aussitzen, alles. Den ganzen Wahnsinn.
Bis ich mich wieder. Spüre.
Und dann wieder rein. Genmanipulierte Mäuse. Als ob nichts gewesen wäre. Und irgendwann klingelts. Und irgendwann ist es aus.

 

Unkraut

I
Komm schon, Papa. Geh ran! –Es ist doch halb acht. Dein Kontrolltermin. Telefonieren. Wie immer. – Mailbox. Komisch.
Momentan nicht erreichbar. Blabla. Zum fünften Mal. Wobei – klar, dein Handy ist ausgeschaltet im Spital. Wahrscheinlich eine Verzögerung beim Röntgen. Also alles in Ordnung. Bestimmt. Nur ein bisschen Verspätung. Du meldest dich gleich.

II
Du solltest längst zu Hause sein. Warum dauert das so lange? – SCHLUCKEN. Bloß nicht zittern. Eine halbe Stunde. Die Augen brennen. Etwas muss passiert sein. Sie haben etwas gefunden. Ja, sie haben etwas gefunden. Dabei war doch voriges Mal alles gut. Und jetzt ist der Krebs zurück. Wie Unkraut, wächst immer wieder nach. – Papa. Scheisse.
Wie soll man ohne Vater leben? Ich meine, wie soll ich ohne Vater leben? Wie soll das gehen? Jetzt würden wir zusammen essen. Was machen Sie mit dir?

III
War das gestern unsere letzte gemeinsame Motorradfahrt? Wie hiess der Pass noch mal? Und in keiner einzigen Kurve hatte ich Angst. Das letzte Mal? Natürlich nicht. Du wirst kommen, vor Mitternacht. Bestimmt. Du bist noch immer gekommen. Und nein, ich zittere nicht. Ich atme, EIN, AUS. EIN, AUS. Alles wird gut.

«It’s gonna take a lot to drag me away from you
There’s nothing that a hundred men or more could ever do»

Nein, natürlich nicht. Du bist noch immer da. Und bald wirst du wieder hier sein. Ich zerplatze, ich berste, aber das bilde ich mir nur ein. Papa. Mach dir keine Sorgen.
Und jetzt ruf ich noch einmal an.