Zwei Leben

Von Samira Fischer

Hier stehe ich. Allein auf der Brücke, über mir der Mond. Und trotzdem versucht die Dunkelheit mich zu verschlingen.
Ich schaue nach unten, kann aber nichts erkennen, schwarzes Nichts. Mein Gehör nimmt das Wasser wahr. Es fliesst, schwemmt alles weg.
«Warum?», höre ich mich sagen. Nein, ich flüstere. So leise, so undeutlich, dass es niemand hören könnte, wenn da überhaupt jemand wäre.
«Warum hast du das getan? Warum hast du mich dir nicht helfen lassen? Wir hätten das vielleicht zusammen durchgestanden. Bestimmt.»
Meine Worte sind immer noch ein unverständliches Flüstern, aber in meinem Kopf werden sie lauter.
«War es nicht genug, dass du gesprungen bist? Musstest du mich zusehen lassen? Wie du aufschlugst. Wie du weggeschwemmt wurdest. Wie soll man da weiterleben?»
Meine Stimme bricht. Ich sehe meine beste Freundin auf dem Geländer sitzen. Sie schaut mich an, ein starrer, leerer Blick. Ihre Lippen formen eine wortlose Entschuldigung, dann springt sie in die Tiefe. – Und ich Trottel wollte sie zurückhalten. Ich packte sie, versuchte sie zurückzureissen, packte sie an der Jacke, zu spät. Ich schlug gegen das Geländer, und hätte ich sie nicht losgelassen, wäre ich mit ihr in die Dunkelheit gestürzt.
Drei Monate ist das her. Andere Bilder habe ich keine. Nur Bruchstücke von Erinnerung. Aber ich muss geschrien haben. Um das Leben meiner Freundin. Um mein eigenes. Ich habe es gerettet. Und jetzt weiss ich nichts damit anzufangen.