Irrlichter

Von Tabea Wullschleger

 

Die Falten werden Mal für Mal tiefer. So oft habe ich dieses Stück Papier zusammen-gefaltet, wieder geöffnet, glattgestrichen. Um dann wieder den geschwungenen Linien aus Tinte zu folgen:
Liebe Luana, ich weiss, ich bin dir noch eine Geschichte schuldig. Du erinnerst dich an den kleinen Vogel aus Jade, den du beim Spielen als Kind mal gefunden hast? Du hast mich gefragt, woher ich ihn habe.
Luana, das Vögelchen flog aus dem Nordlicht herab.
Als junger Mann lebte ich für kurze Zeit in Norwegen, die Arbeit hatte mich in den Norden gerufen. Einmal war ich abends noch zu Fuss unterwegs; die Dunkelheit kam plötzlich, doch mit ihr etwas Wunderschönes: Nordlichter. Ich war überwältigt von diesen Streifen aus Licht, ging ihnen nach, diesen geschmeidigen Bewegungen. Ich war wie in einem Rausch. Doch irgendwann bemerkte ich, dass ich die Orientierung verloren hatte. Angst packte mich. Luana, du musst mir glauben, da war auf einmal ein kleines Mädchen, ein wunderschönes Kind, Augen, so grün wie die Nordlichter über ihr. Das Mädchen war einfach da, sagte «komm» und führte mich ins Dorf. Bei den ersten Häusern rannte es davon. Doch es verlor etwas oder liess es absichtlich liegen: einen kleinen Vogel aus grünem Stein. Ich habe nie jemandem davon erzählt, weder vom Mädchen noch von dem Vögelchen. Ich habe meiner Erinnerung selbst nicht geglaubt, lange nicht.
Luana, du musst dieses Mädchen finden. Gib ihm das Vögelchen zurück. Und bedanke dich. Ich hatte nicht die Zeit dazu.
Wieder falte ich das Stück Papier, schiebe es zurück ins Couvert. Ich schaue hin-auf zu den grauen Wolken, die so viel tiefer hängen als der Himmel. Grossvater, ich tue es echt nur für dich. Lange habe ich es hinausgeschoben, war überzeugt, am Ende zu scheitern. Aber jetzt bin ich so weit. Ich werde dieses Mädchen finden. Für dich.

Keine Klingel, ich klopfe. Versuche mir vorzustellen, wie das Mädchen heute aussieht – eine alte Dame wird gleich vor mir stehen. Ich lege mir nochmals die norwegischen Sätze im Kopf zurecht. Endlich höre ich Schritte, dann geht die Tür auf. Die Frau empfängt mich mit einem warmen Lächeln. Ihre alte Haut ist faltig, zerknittert wie Grossvaters Brief.
«God dag, jeg heter Luana og…»
Die Frau hört mir schon nicht mehr zu; sie winkt mich herein, dreht sich um und verschwindet schlurfend im Halbdunkel des Hauses. Zögernd folge ich ihr, schliesse hinter mir die Tür. Wir betreten eine Art Wohnzimmer; ein olivgrünes Sofa mit abgewetzten Stellen, eine Wanduhr mit Pendel, zwei Porzellankätzchen im Bücherregal. Die Frau setzt sich langsam und mühevoll an den Tisch. Das sanfte Lächeln immer noch im Gesicht, bedeutet sie mir, mich ebenfalls zu setzen. Sie schenkt mir Tee ein. Unsere Blicke treffen sich. Ich sehe in trübe, grüne Augen, darin ein fiebriges Flackern.
Da zwitschert und trillert ein Vogel, ganz nah. Die alte Frau richtet sich auf, ihr Blick ist auf einmal ganz klar, von einer geradezu ungeheuren Präsenz. Die Frau stemmt sich vom Stuhl hoch, geht an mir vorbei. Geht vorbei auch an dem Mädchen, das plötzlich mitten im Raum steht. Ein Mädchen mit schwarzem Haar und – grünen Augen. Ich habe noch nie wirkliche Nordlichter gesehen und doch bin ich mir in diesem Moment sicher, dass mein Grossvater damals in genau diese grünen Augen geblickt hatte. Doch das liegt so weit zurück, das ist unmöglich!, denke ich, sage aber: «Hallo, meine Kleine.»
«Es ist möglich», meint das Mädchen nur.
«Wie – du weisst doch – Ich meine, du bist noch ein Kind. – Weisst du, mein Grossvater…»
«Du brauchst mir die Geschichte nicht zu erzählen. Ich war dabei. Die Nordlichter lieben es, ihr Spiel mit Fremden wie ihm zu treiben. Sie bringen solch unerfahrene Menschen mit ihrer Schönheit um den Verstand oder führen sie in die Irre. Dein Grossvater aber, er tat mir so leid. Er war ein Guter, das sah ich. Und so entschied ich gegen die Lichter.»
«Ich – ich soll dir etwas geben. Du hast es damals verloren.»
«Behalte es! Jede Erinnerung braucht etwas, woran sie sich festhalten kann. Daher liess ich es ihm und lasse es nun dir.»