Nemo

Von Annika Fey

Die beiden sassen gemeinsam unter der Bettdecke. Allein zu Hause.
Als sich die Eltern verabschiedet hatten, war es noch hell gewesen draussen und die Welt in Ordnung. Der Grosse hatte sich auf den ersten Abend ohne Kindermädchen gefreut; endlich schien die Mutter begriffen zu haben, dass er alleine auf sich und seinen kleinen Bruder aufpassen konnte.
Jetzt allerdings war es ziemlich dunkel draussen. Und im Haus waren Geräusche zu hören, die er noch nie gehört hatte. Er war froh, dass sein kleiner Bruder bei ihm war, auch wenn er das nie zugegeben hätte.
«Erzählst du mir eine Geschichte?», fragte der Kleine. «Eine Geschichte, wie sie Mutter immer erzählt. Biiiitte.» Er kuschelte sich eng an seinen Bruder, der zu erzählen begann und ganz froh war, dabei auf andere Gedanken zu kommen.
«Na gut. Es war einmal eine Prinzessin, die lebte auf einem Turm.»
«Nein! Die ist langweilig. Kannst du nicht eine andere erzählen?»
Der Grosse schnaubte.
«Willst du dir selbst eine Geschichte erzählen?»
«Nein, du, bitte. Einfach nicht die von der Prinzessin. Die habe ich schon hundertmal gehört.»
«Na gut. Wie wäre es mit der Geschichte vom Dachs?»
«Oh ja!» Der Kleine begann zu strahlen. «Du musst sie aber so erzählen, wie es Mama immer tut.»
«Der junge Mann ging mit langen Schritten durch die dunkle Gasse, so schnell er konnte. Die Hände hatte er tief in den Jackentaschen vergraben. Der Wind –»
«Erzähl weiter!»
«Stress mich nicht! Ich muss doch überlegen beim Erzählen. Und atmen muss ich auch, okay? – Der Wind pfiff durch die Strassen und liess eine einsame Fasnachtsgirlande flattern. Es war kalt.»
«Das stimmt doch nicht. Die Geschichte spielt ja im Januar. Da hängt man doch noch keine Fasnachtsgirlanden auf!»
«Mann, Erzählst du die Geschichte oder ich!?»
«Schon gut, ich habe nichts gesagt.»
«Wo bin ich stehen geblieben? Genau. Die ersten Schneeflocken wirbelten vom dunklen Himmel. Es war einer jener Abende, an denen man zuhause auf dem Sofa sitzt, in eine Decke eingekuschelt ist und ein Buch lesen oder eine neue Netflix-Serie anfangen sollte. Der junge Mann hatte definitiv auch andere Pläne, als draussen im Dunkeln durch die Gassen der Altstadt zu hasten. Er schien allein unterwegs zu sein, ihm begegnete niemand. Kein Wunder. Wer setzte schon an so einem Sonntagabend noch einen Fuss vor die Tür.»
«Also ich würde es auch nicht tun.»
«Niemand stimmt nicht ganz. Auf dem frisch gefallenen Schnee konnte man Fussspuren sehen. Kleine, leichte Fussstapfen. Dort, wo die wenigen Laternen Flecken auf den Boden warfen, waren sie deutlich zu erkennen. Aber je stärker es schneite, desto stärker würden sie verschwinden.»
«Stopp, es waren doch die Lichtflecken von den wenigen noch beleuchteten Fenstern.»
«Fenster, Strassenlaternen. Was spielt das für eine Rolle?»
«Ich wollte es nur sagen.»
«Wenn du mich nicht ständig unterbrechen würdest, könnte ich die Geschichte zu Ende erzählen. – Also, sein Name war Nemo. Er fror.»
«Nemo – wie aus dem Kinderfilm. Ein besserer Name fällt dir nicht ein? Hat er etwa auch Kiemen? Bei Mama –»
«Und bei mir heisst er Nemo. Du brauchst gar nicht zu lachen. Oder hast du eine bessere Idee?»
«Matteo.»
«Und du glaubst, dass das ein besserer Name ist?»
«Immerhin kein verloren gegangener Fisch.»
«Matteo wünschte sich an jeden Ort der Welt, er hätte alles dafür gegeben, nicht durch die Gasse gehen zu müssen. Wieso war er bloss auf die Idee gekommen, mit dem Bus in die Stadt zu fahren? Er hätte doch auch das Auto nehmen können, bei dem Wetter. Wobei – und ihm fiel wieder ein, weshalb er sich das alles antat. Seit zwei Tagen nämlich stand sein Fahrrad bei der alten Kirche. Nach einer Kneipentour hatte er den Bus nach Hause genommen. Eigentlich eine kluge Idee also, heute mit dem Bus zu der Party seines Freundes zu fahren und dann mit dem Rad die Achtzehnkilometerstrecke wieder nach Hause. Denn die Party hatte länger gedauert, als erwartet. Nemo hatte sich nur schwer losreissen können von der lustigen Truppe.»
«Wir haben doch gesagt, er heisst Matteo!»
«Matteo hatte sich ausführlich von allen Partygästen verabschiedet. Er hatte ja nicht wissen können, wann er sie wiedersehen würde. – Zufrieden?»
«Ja.»
«Als Matteo sich um halb drei endlich zum Gehen entschloss, wäre er zu gern mit dem Bus nach Hause gefahren, doch so spät fuhr keiner mehr. Also musste er wohl oder übel sein Fahrrad holen, das am Ende der Gasse bei der alten Kirche stand.»
«Ha, siehst du, es waren doch Laternenlichter! Nicht Lichter aus Fenstern! Ich habe es doch gesagt.»
«Weshalb sollen es keine Fensterlichter gewesen sein?»
«Tja, wer ist denn um drei Uhr noch wach? Mutter und Vater gehen nur dann so lange weg, wenn sie am nächsten Tag nicht arbeiten müssen. Also nicht am Sonntag.»
«Was soll das heissen? Willst du damit behaupten, ich lüge?»
«Das habe ich nicht gesagt.»
«Aber gemeint hast du es. Gib es zu.»
«Ich gebe gar nichts zu. Erzähl weiter.»
«Ich habe nicht gelogen.»
«Ich weiss, erzähl weiter.»
«Wo war ich? Ach so. Er ging allein die Gasse hinunter und fühlte sich unwohl. Die Fenster schienen ihn zu beobachten, ständig drehte er sich um. Matteo hatte das beklemmende Gefühl, verfolgt zu werden. Schon nach wenigen Metern jedoch kam er auf den grossen Brunnenplatz vor der Kirche.»
«Es war doch ein Gemeindehaus, keine Kirche.»
«Nein es war eine Kirche, ich bin mir sicher. Und im Übrigen erzähle ich die Geschichte. – Über den Platz vor der Kirche führten mehrere Spuren; dieselben, schien es ihm, die er bereits gesehen hatte. Sie kamen ihm vor wie die flüchtigen Fussabdrücke von Geistern.
Sein Fahrrad stand angelehnt an die Mauer, die den Friedhof umschloss. Er beschleunigte seine Schritte. Bevor er das Fahrrad erreichte, zog er den Schlüssel hervor, mit dem er auf dem Weg in der Tasche gespielt hatte. Zum Aufschliessen der Fahrradkette kam er jedoch nicht. Ein Geräusch liess ihn aufschrecken. Sein Puls schlug heftig. Links neben sich hörte er in der Dunkelheit etwas rascheln, dann ein schniefendes Geräusch. Die Kälte war vergessen. Langsam schob er sich die Mauer entlang und behielt den Ort, von wo das Geräusch kam, fest im Blick. Sein Herz drohte zu zerspringen. Matteo bereitete sich auf einen Sprint vor, der würde ihn in Sicherheit bringen – und zu seinem Fahrrad.
Es erklang ein lautes Scheppern. Eine Mülltonne direkt neben ihm fiel um. Nemos Herz setzte ein paar Schläge lang aus.»
«MATTEO, nicht Nemo!»
«Jetzt heisst er eben doch Nemo. Und du nervst.»
«Dann nenn ihn halt Nemo. Du kannst deinem Typen den Namen gegeben, den du willst, aber Matteo –»
«Steck dir deinen Matteo sonst wohin. Weisst du was, ich glaube, ich habe keine Lust mehr, dir die Geschichte zu Ende zu erzählen.»
«Toll. Ich wollte sie sowieso nicht hören!»
«Schön!»
«Schön!»
«Nacht.»